"Seine Würde verliert, wer sich etwas in die Tasche lügt"
Die Erforschung unseres Bewusstseins ist eines der spannendsten und kontrovers diskutiertesten Forschungsthemen unserer Zeit. Ist unser Bewusstsein ausschließlich über Hirnfunktionen zu erklären? Bleibt noch Platz für eine Seele? Ein Interview mit Professor Thomas Metzinger von der Uni Mainz, einem der renommiertesten deutschen Philosophen in Fragen der Bewusstseinsforschung.
Veröffentlicht:Kann ich, können wir in Zukunft noch guten Gewissens an eine Seele glauben? Die Neurowissenschaftler werden zwangsläufig eine gesellschaftliche Diskussion auch über den Sinn des Lebens entfachen, in der wir dringend ethisch-moralische, philosophische Unterstützung benötigen.
Gibt es Trost für ein Ich, das ganz den Forschern zu gehören scheint? Professor Thomas Metzinger, Leiter des Arbeitsbereichs Theoretische Philosophie an der Universität Mainz, sagt: "Wir müssen einen neuen kulturellen Kontext schaffen, um mit der naturalistischen Wende im Menschenbild umgehen zu können." In seinem aktuellen Buch "Der Ego-Tunnel - eine neue Philosophie des Selbst" beschreibt Metzinger den aktuellen Stand der Hirnforschung und skizziert auch eine Bewusstseinsethik für den Umgang mit den neuen Erkenntnissen. Der Philosoph hat eine naturalistische Sichtweise: "Die Hirnforschung leistet einen großen Beitrag zur Selbsterkenntnis", sagt er, die nicht immer angenehm oder emotional attraktiv sein müsse.
Ärzte Zeitung: Herr Professor Metzinger, Sie erforschen seit Jahren in Zusammenarbeit mit Neurowissenschaftlern das Bewusstsein und sind der Ansicht: "Das Selbst existiert nicht wirklich, es ist nur eine Simulation von Neuronen." Heißt das, genauso wie alle Menschen das gleiche Herz haben, haben sie auch das gleiche Bewusstsein, das lediglich von Hirnfunktionen abhängig ist?
Metzinger: Die gleichen Bewusstseinsinhalte haben wir ganz bestimmt nicht, aber der Vergleich ist gar nicht schlecht. Ich denke, wir haben zwei Arten von Organen: auf der einen Seite Hardware-mäßig fixierte Organe wie Herz, Lunge oder Niere, auf der anderen Seite "virtuelle" Organe, die nur manchmal von unserem Nervensystem aktiviert werden und dann wieder verschwinden - Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungserlebnisse. Ein anderes Beispiel für ein solches "virtuelles Organ" ist das Immunsystem, das nur bei Bedarf aktiv ist und das vielleicht auch eine der frühesten Formen darstellt, in der Lebewesen eine Grenze zwischen dem Ich und der Welt gezogen haben.
Das Immunsystem definiert, was zu mir gehört und was nicht, und gibt dann eine flexible Antwort. So ähnlich ist es auch mit dem Bewusstsein, das wir ja nicht 24 Stunden lang haben - zum Beispiel nicht im traumlosen Tiefschlaf. Der Organismus schaltet die bewusste Wahrnehmung ein, wenn er sie braucht, etwa beim Aufwachen am Morgen, und dann entsteht auch das Ichgefühl. Das bewusste Erleben, jemand zu sein, haben wir auch nicht 24 Stunden. Im Tiefschlaf wissen wir nicht, dass wir jemals existiert haben, und während der fünf Traumphasen haben wir zwar ein bewusstes Selbst, aber das ist ganz anders als am Tag. Im Traum können wir zum Beispiel unsere Aufmerksamkeit nicht kontrollieren und haben kaum Wärme- oder Schmerzempfindungen; das Langzeitgedächtnis oder andere Wahrnehmungen dagegen können im Schlaf ausgeprägter sein, wie Kindheitserinnerungen zeigen oder die häufige Hyperemotionalisierung, zum Beispiel das Erleben eines Panikzustandes während eines richtigen Alptraumes.
Professor Dr. Thomas Metzinger (51) ist Leiter des Arbeitsbereichs Theoretische Philosophie an der Universität Mainz. Foto. rf
Ärzte Zeitung: Reden wir über das Bewusstsein im wachen Zustand. Bin ich mir denn nicht immer mehr oder weniger der Dinge bewusst, die ich tue? Und was ist anders im Gehirn, wenn ich Dinge ganz bewusst oder weniger bewusst mache?
Metzinger: Wir glauben intuitiv, wir würden unseren Körper immer als Ganzen bewusst beleben, aber das ist gar nicht so. Der Körper ist oft auf Autopilot; aber natürlich haben wir im Normalfall immer das autobiographische Gedächtnis und sind uns bewusst, wer wir sind. Die Aussage, dass es kein substanzielles Selbst gibt, ist wirklich nichts Neues und Revolutionäres - es gab schon viele Philosophen wie David Hume oder Kant, die gesagt haben, dass das erlebte Selbst keine Substanz ist, also nichts, was alleine existieren könnte, sich aus eigener Kraft "im Sein halten" könnte, wenn der Körper oder das Gehirn stirbt. Dass das Selbst kein Ding ist, haben auch die Buddhisten schon vor 2500 Jahren gesagt. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist es wichtig zu erklären, wie ein Modell eines Selbst im Gehirn entstehen konnte - und warum wir es nicht als solches erleben.
Ärzte Zeitung: Ist die Wissenschaft schon so weit, sagen zu können, was im Gehirn auf neuronaler Ebene passiert, wenn wir Glücksgefühle haben oder Aggressionen
empfinden?
Metzinger: Ich würde sagen, wir stehen bei der Erforschung der Hirnfunktionen erst am Anfang, aber ich bin ja kein Hirnforscher, sondern Philosoph. Es gibt trotzdem atemberaubende Fortschritte. Wir wissen heute, wo Emotionen entstehen, wir kennen notwendige Bedingungen für Gefühle und viele andere Bewusstseinsinhalte, die Menschen mit bestimmten Hirnläsionen nicht mehr haben können. Eine andere Frage ist, was die minimal hinreichenden Bedingungen sind, damit ein Ich-Erleben auftaucht. Es können sehr kleine Hirnbereiche sein, die ein bestimmtes Erleben erzeugen. Wir gehen davon aus, dass bei genauer Kenntnis dieser Bereiche und künstlicher Stimulation dieses Hirnareals das gleiche Bild, der gleiche Bewusstseinsinhalt erzeugt würde wie beim "normalen" Erleben - das heißt, wir würden etwa eine Flasche auf einem Tisch sehen, obwohl keine da ist.
Ärzte Zeitung: Bei vielen Menschen lösen diese Visionen auch Ängste aus, dass wir unsere Identität verlieren, wenn alles Erlebte über bestimmte Hirnfunktionen zu erklären ist. Ist denn im Gehirn noch Platz für eine Seele?
Metzinger: Richtig, man sollte nicht in Science-Fiction-Phantasien verfallen. Obwohl unser Wissen in den letzten 30 Jahren rasant gewachsen ist, wissen wir natürlich sehr vieles noch nicht. Ob das Gehirn vollständig entschlüsselt werden kann, ist eher eine Frage der nächsten 50 bis 200 Jahre. Außerdem: Wenn jemand aus weltanschaulichen oder emotionalen Gründen auch weiterhin glauben möchte, dass es eine unsterbliche Seele im Sinne einer Substanz gibt, die auch unabhängig vom Gehirn operieren kann, kann man sagen: Logisch möglich bleibt das immer. Es könnte sozusagen einen kompletten materialistischen Durchmarsch geben und es würde trotzdem logisch möglich bleiben, dass eine (oder mehrere…) Seelen existieren. Im rationalen wissenschaftlichen Erklärungsmodell ist allerdings die Theorie, die die schwächeren Annahmen macht, und genau das Selbe oder sogar mehr erklären kann, immer die bessere Theorie.
Man nennt das das "Prinzip der ontologischen Sparsamkeit". Es zeichnet sich heute sehr deutlich ab, dass die psychologischen Eigenschaften von Menschen ohne die Annahme einer unsterblichen Seele erklärt werden können. In der wissenschaftlichen Psychologie glaubte schon lange vor dem Aufkommen der Neurowissenschaft kaum noch jemand an eine Seelensubstanz im metaphysischen Sinne. Wir brauchen diese Annahme nicht.
Für die Privatperson bleibt natürlich immer die Freiheit bestehen, einfach an irgendetwas zu glauben. Kulturell und gesellschaftlich wird es aber wahrscheinlich künftig immer deutlicher werden, wie irrational dieser Glaube ist - und im öffentlichen Raum, bei politischen Entscheidungen zum Beispiel, dürfen in einer demokratischen Gesellschaft nur rationale Argumente berücksichtigt werden. Es gibt keine empirischen Belege dafür, und es gibt auch begrifflich wohl keine Gründe zu glauben, dass es so etwas wie eine Seele gibt.
Diese Entwicklung könnte große gesellschaftliche Auswirkungen haben. Wir glauben so richtig im Ernst ja auch nicht mehr an Geister und Gespenster. Es könnte die Gefahr bestehen, belächelt zu werden, wenn man weiter an das eigene Seelengespenst in der Gehirnmaschine glaubt. Das Problem: Viele Leute könnten sich gekränkt oder bedroht fühlen, weil sie sich mit Ihrem alten Glauben geborgen und sicher fühlen, weil sie die naturalistische Wende im Menschenbild gefühlsmäßig schwer ertragen können. Das ist ganz und gar menschlich.
Ärzte Zeitung: Müssten Menschen nicht moralisch besser auf diese Entwicklungen vorbereitet werden?
Metzinger: In meinem aktuellen Buch, der "Ego-Tunnel", meinem ersten populären Buch, gehe ich auch auf die ethischen Folgen ein und versuche aufzuzeigen, was wir bräuchten, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden. Es ist wichtig, dass wir alle zusammen über die möglichen gesellschaftlichen Veränderungen nachdenken. Ich denke, wir müssen einen neuen kulturellen Kontext schaffen, um mit diesem historischen Übergang - ich nenne das die naturalistische Wende im Menschenbild - umzugehen. Die traditionelle Strategie in Deutschland ist es ja, so lange angestrengt wegzugucken, wie es irgend geht, und dann voller Selbstmitleid auszurufen: Davon habe ich nichts gewusst!
Wenn wir das machen, könnten wir von den technologischen Folgen überrollt werden. Die Hirnforschung erfindet ja auch neue medizinische Neurotechnologien, die Pharmaindustrie entwickelt neue Pillen - "kognitive Enhancer" - die den Geist verändern. Damit müssen wir lernen umzugehen. Keine Lösung ist die Strategie mancher Geisteswissenschaftler, einfach nur das Ressentiment zu pflegen oder in der Ecke zu sitzen und zu schmollen. Dann ist es irgendwann zu spät. Wir sollten den Tatsachen rechtzeitig ins Auge schauen. Die Hirnforschung leistet in meinen Augen einen großen Beitrag zur Selbsterkenntnis. Es hat aber niemand gesagt, dass Selbsterkenntnis immer etwas Angenehmes oder emotional Attraktives ist.
Ärzte Zeitung: Was könnte getan werden?
Metzinger: Die Idee einer "Bewusstseinsethik" könnte ein zentraler neuer Arbeitsbegriff sein. Wenn wir unser Bewusstsein immer besser beeinflussen können, sollten wir auch überlegen, was ein guter Bewusstseinszustand ist, in dem wir leben wollen, und welche Bewusstseinszustände verboten und illegal bleiben sollten wie zum Beispiel der Heroin- oder der Kokainbewusstseinszustand. Wir könnten auch den Ethanol- oder den RTL-Bewusstseinszustand kritisch hinterfragen. Welche Bewusstseinszustände wollen wir unseren Kindern zeigen? Eine weitere wichtige Frage: In welchem Bewusstseinszustand wollen wir selbst einmal sterben?
Wenn wir uns auf gute Bewusstseinszustände geeinigt haben, könnten wir diese frühzeitig unseren Kindern vermitteln. Ich denke in allererster Linie an Meditationsunterricht an Schulen, an das Erlernen von Tiefenentspannungstechniken, an ein neues Fach "Medienhygiene" - jedes Kind sollte einen Werkzeugkasten mit Techniken zum richtigen Umgang mit dem eigenen Gehirn und dem eigenen Bewusstsein bekommen. Es gibt neue Daten, die einen eindeutigen Zusammenhang zwischen ausgiebigem Fernsehkonsum und Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen belegen. Zum Beispiel sollten Kinder bis zum zweiten Lebensjahr überhaupt keinen Medienkonsum haben, noch nicht einmal für 30 Minuten vor einer Märchen-DVD geparkt werden.
Ärzte Zeitung: In den USA ist das so genannte Neuroenhancement ein neuer Trend, also die Einnahme von Pillen zur Verbesserung des Gedächtnisses oder der Aufmerksamkeit, etwa vor Prüfungen. Brauchen wir Regeln, um das zu kontrollieren?
Metzinger: In Deutschland scheint das noch gar nicht so verbreitet. Laut einer neuen, noch unveröffentlichten Untersuchung unserer Mainzer Arbeitsgruppe nimmt hierzulande bisher kaum ein Schüler oder Student Psychostimulanzien wie Modafinil oder illegale Amphetamine vor einer Prüfung ein, sondern eher ganz altmodische Koffeintabletten. Bei rund acht Prozent haben wir das festgestellt. In Deutschland gibt es aber einen riesigen Markt für Ginkgo biloba und rezeptfreie Antidementiva. Die Menschen möchten auch im hohen Alter noch ein gutes Gedächtnis haben. Der Markt für solche Mittel ist aber heute schwer zu kontrollieren: Wenn ich ein Präparat nicht vom Arzt bekomme, kann ich es im Internet bestellen. Prinzipiell sollte in einer freien Gesellschaft natürlich jeder mit seinem eigenen Gehirn machen können, was er will. Wenn einer den Lebensentwurf hat, immer unter Strom oder auch unter Alkohol zu stehen, ist das prinzipiell legitim. Der Staat sollte nicht ins Bewusstsein eingreifen dürfen. Das ist alles leicht gesagt - das eigentliche Problem besteht darin, die Freiheit dann wieder auf intelligente Weise einzuschränken, so dass die Interessen anderer Mitbürger nicht beschädigt werden.
Freigegeben werden sollten solche neuen Substanzen aber auf keinen Fall. Es gibt keine Daten zu den Nebenwirkungen des Langzeitgebrauchs solcher Substanzen bei Gesunden, und nach dem deutschen Arzneimittelgesetz ist die Abgabe auch verboten. Zunächst bräuchte man Langzeitstudien über zu erwartende Risiken, damit überhaupt empirische Daten für eine ethisch korrekte Entscheidung vorliegen. Solche Studien gibt es nicht.
Ärzte Zeitung: Was halten Sie von parapsychologischen Phänomenen, Gedankenlesen, Hellsehen. Wäre das mit besonderen Hirnfunktionen zu erklären?
Metzinger: Es gibt natürlich ganz viele unerklärliche Phänomene. Mit jeder gelösten Frage treten ganz viele neue auf. Es gibt auch viele ganz normale Eigenschaften an uns, die nicht mit purer Physik zu erklären sind, sondern eine höhere Beschreibungsebene erfordern. Es folgt aus solchen unerklärlichen oder nicht reduzierbaren Phänomenen aber nicht, dass das Leben einen Sinn hat oder dass es Gott gibt, und auch nicht, dass es eine unsterbliche Seele gibt. Das ist ein Fehlschluss.
Glauben ist nicht das Gegenteil von Wissenschaft, sondern das Gegenteil von Spiritualität und intellektueller Redlichkeit. Viele Leute meinen, wir verlieren unsere Würde durch die Hirnforschung. Ich glaube, seine Würde verliert man eher, wenn man sich etwas in die Tasche lügt oder sich vorsätzlich eine Wahnvorstellung aufbaut, etwas, das man glauben möchte, damit man vorübergehend schöne Gefühle hat.
Intellektuell unredlich ist es, wenn man vorsätzlich verdrängt, sich einfach dumm stellt und Fakten nicht sehen will, sich am Ende noch über die eigene Unwissenheit freut. Unsere Würde besteht unter anderem auch darin, wissenschaftlichen Tatsachen ins Auge zu sehen und rational mit Phänomenen umzugehen - und das wiederum heißt auch, ganz klar zu sehen, dass wir viele Sachen noch lange nicht wissen und dass tatsächlich vieles unerklärlich ist.
Das Gespräch führte Roland Fath.
Zur Person
Professor Dr. Thomas Metzinger (51) ist Leiter des Arbeitsbereichs Theoretische Philosophie an der Universität Mainz. Er gilt als einer der renommiertesten deutschen Philosophen in Fragen der Bewusstseinsforschung.
Seine Hauptarbeitsgebiete sind die Philosophie des Geistes, die Wissenschaftstheorie der Neurowissenschaften und die Neuroethik. Metzinger studierte Philosophie, Ethnologie und Theologie an der Uni Frankfurt am Main. 1992 habilitierte er sich an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Foto. rf
Lese-Empfehlung: Thomas Metzinger: "Der Ego-Tunnel". Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Berlin 2009.