Digital Health

"Der Markt hängt uns ab"

Wenn Ärzte ethische und medizinische Standards in der digitalen Medizin etablieren wollen, müssen sie sich aktiv an der Digitalisierung beteiligen. Wenn sie sich weiter hinter dem Datenschutz-Argument verstecken, werden wir in Europa bzw. in Deutschland die Spielregeln für die Diagnosedatenbanken der Zukunft nicht bestimmen, ist sich Bart de Witte, Digital Health-Chef bei IBM Deutschland, sicher.

Rebekka HöhlVon Rebekka Höhl und Wolfgang van den BerghWolfgang van den Bergh Veröffentlicht:
Digitale Unterstützung bei Gendiagnostik und personalisierter Therapie? Daran wird längst gearbeitet.

Digitale Unterstützung bei Gendiagnostik und personalisierter Therapie? Daran wird längst gearbeitet.

© natali_mis / fotolia.com

NEU-ISENBURG. "Wenn man die Zeitachse betrachtet, ist Deutschland in Sachen digitale Gesundheit eher ein Follower." Nicht einmal ins Mittelfeld will Bart de Witte, Director Digital Health DACH beim IT-Spezialisten IBM, unser Gesundheitswesen im internationalen Vergleich einsortieren. Dabei hat das Unternehmen gerade gemeinsam mit dem Münchener Leukämielabor MLL und dem DNA-Sequenzierungsspezialisten Illumina ein regelrechtes Leuchtturmprojekt in der Krebsdiagnostik und stratifizierten Medizin ins Leben gerufen.

De Witte legt den Finger tief in die Wunde: Der sektorübergreifende Austausch von Daten, den das E-Health-Gesetz seiner Meinung nach nun tatsächlich beschleunigt, stehe nicht immer in direkter Verbindung mit den Chancen der Digitalisierung. In Dänemark gebe es die Vernetzung der Leistungserbringer bereits seit 1996. Dafür hätten die dänischen Ärzte nur eine Internetverbindung gebraucht.

Datenschutz als Markenzeichen?

De Witte: "Was sich nun geändert hat, ist, dass wir durch den Einsatz von maschinellem Lernen in Kombination mit Daten und dem geballten Internetwissen zum Kern der Medizin vorgedrungen sind." Medizinisches Wissen würde nicht nur schneller generiert, sondern könnte als Service auch weltweit skalierbar sein. Das bietet für Deutschland enorme Chancen, hier könne der Datenschutz sogar als Marke genutzt werden. "Made in Germany" könne sich zu "Protected by Germany"entwickeln.

Dass sich der Deutsche Ärztetag in diesem Jahr so intensiv mit dem Thema Digitalisierung beschäftigen wird, findet er aber auch aus einem anderen Grund "großartig". "Ich hoffe, dass wir damit endlich eine klare Differenzierung zwischen E-Health und dem, was wir als Digitalisierung verstehen, hinbekommen", sagt er. Denn die Begriffe werden in der Ärzteschaft, aber auch der Politik immer mehr verwischt. Es gibt gerade jetzt vor der Bundestagswahl kaum ein Parteiprogramm, in dem nicht das Schlagwort Digitalisierung fällt.

E-Health ist nicht gleich Digitalisierung

"Bei mir fängt die Digitalisierung dann an, wenn sich auch das Geschäftsmodell ändert", stellt der IT-Experte klar. Also wenn etwa Krankenhäuser oder große Praxiseinheiten anfangen, durch digitale Produkte Einnahmen zu generieren oder zu globalen Marktteilnehmern werden. "So wie wir das etwa in München mit Professor Haferlach und seinem Leukämielabor vorhaben." Denn hier geht es unter anderem darum, am Ende ein digitales Produkt oder eine digitale Dienstleitung zu entwickeln.

Oft würden klassische E-Health Themen, wie die seit Jahren diskutierte Gesundheitskarte mit einer echten Digitalisierung verwechselt.

Wo der Unterschied liegt, zeigt tatsächlich die Kooperation mit dem Münchener Leukämielabor. Mitbegründer und Geschäftsführer Professor Torsten Haferlach – selbst Hämato- und Onkologe – habe von Beginn an die Zukunft gedacht, berichtet de Witte. In dem Labor, das 2005 gegründet wurde, seien bereits viele Prozesse robotisiert. Außerdem wurden von Anfang an Proben gesammelt. "Ich glaube Professor Haferlach hat mit seinen über 500.000 Proben die größte Biobank in diesem Bereich", so de Witte. "Wenn man weiß, dass die Prävalenz für Leukämie-Neuerkrankungen in Deutschland bei 15.000 pro Jahr liegt, erkennt man, welcher Datenschatz da schlummert. Dabei behält das MLL die Datenhoheit, so sieht es auch das IBM Geschäftsmodell vor, Datendeals stehen nicht im Fokus."

Kontinuierlicher Lernprozess

Mithilfe von IBMs Supercomputer Watson sollen die Genomdaten analysiert werden. Das Ziel ist, einen Prototypen zu entwickeln, mit dem sich genomische und phänotypische Daten im Kontext der medizinischen Literatur, der Leitlinien und anderer Studienergebnisse besser auswerten lassen. Um letztlich eine personalisierte Behandlung zu ermöglichen.

"Wir gehen hier agil voran und sind noch mitten in der Entwicklungsphase. Wir verwenden eine Menge Algorithmen und lernen kontinuierlich daraus", erläutert de Witte. Das System findet komplexe biologische Beziehungen und kann algorithmisch validieren. Am Ende des Jahres will das Team Variablen definiert haben, die für ein brauchbares Diagnose-Tool notwendig sind. Der IT-Experte spricht offen an, dass solche als Deep Learning bezeichnete Methoden noch einige Fragen aufwerfen. In den USA hat die FDA die Methodik allerdings schon akzeptiert.

So ein Großprojekt fernab von E-Health will aber auch finanziert werden. "Wir haben unglaublich viele Forscher und Ärzte, die großes Interesse an der Technologie, leider aber kein Geld zur Verfügung oder keinen Budget-Zugang haben, es muss dringend mehr investiert werden". Will Deutschland zu einem der führenden Anbieter im Bereich der digitalen Medizin werden , reiche der vom Gesetzgeber aufgelegte Innovationsfonds nicht aus.

Wo bleibt der Mehrwert für Ärzte?

Der IT-Experte bemängelt allerdings nicht nur, dass die Kliniken viel zu wenig in ihre IT-Infrastruktur investieren: "In Deutschen Kliniken fließen gerade einmal 1,8 Prozent des Gesamtbudgets in die IT. In Amerika sind wir mittlerweile bei acht bis zehn Prozent." Es fehlt auch an erkennbarem Mehrwert für die Ärzte. Wenn der Arzt elektronisch Daten dokumentiere, dann müsse er einen Nutzen haben. Sei dieser nicht in einer Zeitersparnis gegeben, müssten finanzielle Incentives fließen, sagt er sehr deutlich. Das habe man im E-Health-Gesetz nicht berücksichtigt. De Witte: "Keiner hat den Fokus auf dem Arzt gehabt." Die Vermeidung von Doppeluntersuchungen bringe zwar dem Versorgungssystem und dem Patienten einen Nutzen, dem einzelnen Arzt de facto aber erst einmal nicht – klare Worte, die kaum jemand so ausspricht. Denn für den einzelnen Facharzt entfallen dadurch Einnahmen. Das hätten die Dänen besser gemacht, berichtet der IT-Experte. Dort habe man geschaut, welche Wirkung die Vernetzung auf die Ärzte und Apotheker hat, negative Auswüchse seien finanziell ausgeglichen worden.

De Witte warnt, die eigentliche wirtschaftliche oder organisatorische Dimension der digitalen Vernetzung über das Datenschutz-Argument ausgleichen zu wollen. "Manchmal geht es hier um einen Tatenschutz, nicht Datenschutz." Und das sei insofern gefährlich, als sich die Technologie nicht aufhalten lässt. "Es gibt eine exponentielle Wachstumskurve in der Technologie", so de Witte. Mittlerweile monatlich würden Studien auftauchen, die belegten, dass ein Algorithmus treffsicherer diagnostiziere als ein Arzt. "In zehn Jahren wird es so sein, dass in 80 Prozent der heutigen klassifizierten Diagnostik die Algorithmen im Vergleich zu Ärzten besser performen werden", formuliert er bewusst provokativ. Und wenn die Ärzte nicht wollen, dass die üblichen Internetriesen irgendwann mit einer 2-Euro-Diagnostik den Markt aufmischen und die Spielregeln bestimmen, müsste sich Deutschland hier als Marktführer etablieren. "In Deutschland sind wir heute führend im medizinischem Wissen, wir könnten, wenn wir beschleunigen die neue Health-Instanz werden." Das müsste seiner Meinung nach aber in den nächsten fünf Jahren passieren. Denn de Witte ist sich sicher: Nur globale Marktführer, die dann Zugang zu Kohorten von über 100 Millionen Patientendaten haben, können, im Zusammenspiel mit den gesetzgebenden Gremien, die ethischen und medizinischen Standards bestimmen.

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