Darf man das verordnen?
Placebo ist nicht gleich Placebo
Einem Patienten ein Scheinmedikament zu verordnen, gilt manchen Ärzten als anrüchig, andere halten es für legitim. Wie man die Sache sieht, hängt wohl auch davon ab, woraus das spezielle Placebo besteht – Stichwort: Pseudoplacebo.
Veröffentlicht:MÜNCHEN. Erstmals in der Medizin verwendet hat den Begriff "Placebo" – folgt man den Erkenntnissen des Medizinhistorikers Professor Robert Jütte – der englische Arzt Alexander Sutherland im 18. Jahrhundert.
Ursprünglich findet sich der Ausdruck aber schon im 116. Psalm der lateinischen Bibel, dort in der Wendung "Placebo domino". Darum, dem Herrn zu gefallen, ging es später weniger. "Jemandem ein Placebo singen" stand als abwertender Ausdruck für einen schmeichlerischen, nicht echten Totengesang von bezahlten Sängern auf spätmittelalterlichen Beerdigungen.
Der Anruch des Unechten und Unaufrichtigen hängt dem medizinischen Umgang mit Placebos – jedenfalls außerhalb klinischer Studien – für manchen Mediziner noch heute an.
Von aktiver Täuschung und Zaubertricks, bloß um den Patienten zu gefallen, ist da bisweilen die Rede. Doch wie oft kommt eine Placeboverordnung im Praxisalltag eigentlich vor? Und was genau gilt als Placebo?
Metaanalyse von 16 internationalen Studien
Wie häufig es in der hausärztlichen Praxis zur Verordnung von Placebos kommt, hat eine Arbeitsgruppe um Professor Klaus Linde vom Institut für Allgemeinmedizin der Technischen Universität München herauszufinden versucht (PLoS ONE 2018; 13: e0202211). Die Forscher verschafften sich einen Überblick über die Literatur, der schließlich in eine Metaanalyse von 16 internationalen Studien – davon zwei deutsche – mündete. Beteiligt waren insgesamt knapp 3000 Ärzte, mehr als 500 davon aus Deutschland.
Die Anteile der Ja-Antworten in den deutschen Studien zu der Frage, ob die befragten Ärzte jemals ein Placebo verschrieben hätten, lagen zwischen 79 und 88 Prozent. Von Placeboverordnungen im vorangegangenen Jahr berichteten 76 bis 81 Prozent. Mindestens monatlich nahmen 57 bis 69 Prozent solche Verordnungen vor, mindestens wöchentlich taten das 19 bis 32 Prozent.
Das sind stattliche Zahlen, die jedoch im Rahmen der Spannen liegen, die Linde und Kollegen für den international üblichen Placeboeinsatz von Hausärzten ermitteln konnten. Bei den verordneten Präparaten handelte es sich aber seltener um reine Placebos im Sinne pharmakologisch unwirksamer Substanzen.
Pseudoplacebos bei deutschen Ärzten beliebt
Häufiger sind Pseudoplacebos, also pharmakologisch aktive Substanzen, die nach dem Stand der Erkenntnis keine spezifische Wirkung für die betreffende Indikation haben.
Solche Pseudoplacebos setzten 53 bis 64 Prozent der deutschen Ärzte monatlich und 16 bis 30 Prozent wöchentlich ein. Reine Placebos gaben hingegen nur 9 bis 15 Prozent monatlich und 2 bis 3 Prozent wöchentlich. Auch diese Anteile liegen in etwa im Rahmen der international ermittelten Durchschnittszahlen.
Zu den häufiger verordneten Pseudoplacebos zählen demnach in Deutschland Sedativa, Supplemente, Antibiotika, Homöopathika, Vitamine und Phytotherapeutika. Seltener werden Analgetika oder subtherapeutische Dosen anderer Substanzen gegeben.
Gerade bei der Abgabe von Pseudoplacebos halten es Linde und Kollegen für wahrscheinlich, dass es dabei nicht primär um das Erzeugen von klassischen Placeboeffekten geht, sondern darum, einen Ausweg aus einer schwierigen Situation in stressiger Alltagsroutine zu finden – wie etwa, die Erwartungen von Patienten nicht zu enttäuschen.
Ist Placebotherapie ethisch akzeptabel?
Wie erwähnt, ist es strittig, ob die Placebogabe in der therapeutischen Praxis, also außerhalb klinischer Studien, ethisch akzeptabel ist. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer hat sich dazu 2010 in einer Stellungnahme des Titels "Placebo in der Medizin" geäußert, unter Federführung des oben schon erwähnten Jütte.
Mit Verweis auf den belegten Nutzen von Placebobehandlungen hält der Beirat die bewusste Anwendung von Placebos oder Pseudoplacebos für vertretbar, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
- Es gibt keine geprüfte wirksame (Pharmako-)Therapie,
- es handelt sich um relativ geringe Beschwerden, und der Patient will ausdrücklich behandelt werden und
- es besteht Aussicht auf Erfolg einer Placebotherapie.
Verumtherapie muss sein
Zugleich weist der Beirat aber darauf hin, dass das Unterlassen einer Verumtherapie den rechtlichen Tatbestand der Körperverletzung erfüllen kann: "Dies ist unstrittig, wenn es durch die contra legem artis und gegen den Willen des Patienten unterlassene Verumtherapie kausal zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes … gekommen ist."
Hinzu kommt eine weitere Forderung, die der Beirat der Ärztekammer so zusammenfasst: "Außerdem muss die Aufklärungspflicht unbedingt beachtet werden; denn im Rahmen der lex artis obliegt dem Arzt die therapeutische Pflicht, mit dem Patienten das aus ärztlicher Sicht Notwendige zu besprechen."
Das mag auch ein Grund sein, weshalb als Placebos in der Regel keine reinen, sondern Pseudoplacebos eingesetzt werden. Über deren Verwendung lässt sich schließlich leichter aufklären als über jene von Zuckerpillen. Und ohne Aufklärung geht es nicht: Es ist ja, wie der Beirat betont, letztlich der Patient, der die Konsequenzen der Placebogabe tragen muss – ob sie ihm gefallen oder nicht.