Interview

Auch bei „Seltenen“ hilft digitale Medizin

Seltene Erkrankungen gehören zu den Hauptthemen des diesjährigen Internistenkongresses. DGIM-Kongresspräsident Professor Claus F. Vogelmeier sieht hier enge Bezüge zum Leitthema Digitale Medizin.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
„Wir müssen die Möglichkeiten, die spezielle Suchmaschinen und Computerprogramme bieten, in der Ärzteschaft verstärkt bekannt machen“: Professor Claus F. Vogelmeier, Präsident des Internistenkongresses 2019.

„Wir müssen die Möglichkeiten, die spezielle Suchmaschinen und Computerprogramme bieten, in der Ärzteschaft verstärkt bekannt machen“: Professor Claus F. Vogelmeier, Präsident des Internistenkongresses 2019.

© Marco Mrusek

Professor Claus F. Vogelmeier: Zunächst einmal geht es darum, die richtige Diagnose zu finden. Patienten mit ungewöhnlichen Symptomenkonstellationen erhalten oft über bis zu zehn Jahre keine korrekte Diagnose. Der Grund ist naheliegend: Die untersuchenden Ärzte haben noch nie einen solchen Patienten gesehen. Da können softwarebasierte Diagnosewerkzeuge wie die Suchmaschine FindZebra sehr hilfreich sein.

Eine wichtige Frage ist aber auch, wie wir Medikamente für Patienten mit seltenen Krankheiten entwickeln sollen. Eine Möglichkeit ist das sogenannte Repurposing: Bereits für andere Indikationen zugelassene Medikamente eignen sich womöglich für diese oder jene seltene Erkrankung. Voraussetzung ist ein gutes Verständnis der Pathomechanismen, so dass man die seltene Krankheit beginnt besser zu verstehen.

Und mit Künstlicher Intelligenz ist es dann möglich, entsprechende Datenanalysen für ein Repurposing vorhandener Wirkstoffe vorzunehmen.

Allein in Ihrem Spezialgebiet, der Pneumologie, soll es über 100 seltene Erkrankungen geben. Welches Beispiel für neue Entwicklungen von Diagnostika oder Therapien fällt Ihnen als Erstes ein?

Vogelmeier: Eine seltene Lungenerkrankung, mit der wir uns auch in Marburg beschäftigen, ist der Alpha-1-Antitrypsin-Mangel. Etwa 1,5 Prozent der scheinbar an einer COPD erkrankten Patienten haben in Wirklichkeit diese erbliche Stoffwechselstörung. Alpha-1-Antitrypsin-Mangel lässt sich bislang nur mit einem Bluttest identifizieren, gefolgt von einer Geno- und Phänotypisierung.

Eine neue Entwicklung ist die elektronische Nase: Der Patient bläst in dieses Gerät hinein, das die Ausatemluft analysiert. Anhand des Musters von Molekülen in dieser Atemluftprobe erkennt das Gerät, dass es sich um einen Alpha-1-Antitrypsin-Mangel handelt und eben nicht um eine COPD.

Ein anderes Beispiel: Eine australische Arbeitsgruppe hat eine Applikation für Mobiltelefone entwickelt, die Husten- und Atemmuster analysiert und auf dieser Grundlage Anhaltspunkte für mögliche Diagnosen gibt. Die diagnostische Treffsicherheit soll hoch sein. Solche Anwendungen sind gerade für Länder und Regionen, wo der nächste Arzt meilenweit entfernt ist, sinnvoll, um den diagnostischen Weg zu bahnen.

Und vielleicht noch ein drittes Beispiel: Seltene Formen interstitieller Lungenerkrankungen sind oft schwer zu diagnostizieren und zuzuordnen. Bei der Auswertung von Thorax-Computertomografien könnten Radiologen künftig Unterstützung durch elektronische Analysewerkzeuge erhalten, die es erlauben, die Diagnose früher zu stellen, als das bisher meist der Fall ist.

Sie haben im Vorfeld des DGIMKongresses darauf hingewiesen, dass vorhandene Informationsmöglichkeiten zu seltenen Erkrankungen vielfach unbekannt seien. Wen haben Sie damit gemeint?

Vogelmeier: Sowohl Patienten als auch Ärzte. Die Patienten wissen nicht, welche Krankheit sie haben und wenn sie es wissen, möchten sie sich darüber informieren. Solche Informationen bieten staatliche Einrichtungen, Selbsthilfegruppen und teilweise auch die Pharmaindustrie – viele Patienten wissen davon aber nichts. Auch Ärzte rätseln manchmal, an wen sie sich wenden können, wenn sie mit bestimmten Patienten nicht mehr weiterkommen.

Was kann man tun, um diese Informationsquellen bekannter zu machen?

Vogelmeier: In Deutschland gibt es inzwischen über 30 Zentren für seltene Erkrankungen. Es besteht also die Möglichkeit, Patienten mit unklaren Diagnosen dorthin zu überweisen. Ein Problem sind die langen Wartezeiten.

Daher müssen wir die Möglichkeiten, die spezielle Suchmaschinen und Computerprogramme bieten, in der Ärzteschaft verstärkt bekannt machen. Denn damit hat bereits der Primärarzt die Möglichkeit, nach möglichen Differenzialdiagnosen zu fahnden und die weitere Diagnostik zu bahnen. Patienten mit der gesicherten Diagnose einer seltenen Krankheit sollten auf die für sie zugeschnittenen Informationsmöglichkeiten aufmerksam gemacht werden.

Die umfassende und multidisziplinäre Versorgung von Patienten mit seltenen Krankheiten ist nicht nur ein fachliches, sondern auch ein logistisches Problem. Wie kann man dem gerecht werden?

Vogelmeier: Ich bin überzeugt, dass wir auch dabei mit digitaler Medizin weiterkommen können, zum Beispiel mit der telemedizinischen Konsultation von Spezialisten. In Deutschland läuft dazu ein von den gesetzlichen Krankenkassen unterstützter Pilotversuch einer pädiatrischen spezialärztlichen Sprechstunde.

Nehmen wir an, ein Pädiater sieht ein Kind mit einem unklaren dermatologischen Problem. Per Telesprechstunde kann der Befund übertragen werden an einen pädiatrisch versierten Dermatologen, der dann Hinweise dahingehend gibt, was an nächsten diagnostischen oder auch therapeutischen Schritten zu tun wäre. Ich meine, wenn wir solche telemedizinischen Konsultationen im medizinischen Alltag etablieren könnten, wäre das ein großer Fortschritt.

„Digitale Medizin – Chancen, Risiken, Perspektiven“ ist Leitthema des DGIM 2019. Lesen Sie dazu:

Professor Claus Vogelmeier im früheren Interview

Die Präsidentenrede beim DGIM 2019

Professor Claus F. Vogelmeier

  • Position: Direktor der Klinik für Innere Medizin mit Schwerpunkt Pneumologie, Intensiv- und Schlafmedizin am Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Marburg
  • Werdegang: 1982 Approbation, 1984 Promotion, Weiterbildung zum Internisten mit den Schwerpunkten Pneumologie, Allergologie, Kardiologie an der LMU München, 1987-1989 Forschungsaufenthalt an den National Institutes of Health in Bethesda/USA, 1994 Habilitation, ab 1997 klinischer Oberarzt, ab 1998 Leiter des Schwerpunkts Pneumologie an der LMU München, seit 2001 Direktor der Klinik für Innere Medizin am Universitätsklinikum Gießen und Marburg
  • Engagement: u.a. - seit 2002 Mitglied im Vorstand der Atemwegsliga, - seit 2008 Sprecher des Deutschen Asthma- und COPD-Netzwerks (BMBF), - seit 2014 Vorsitzender Science Committee der Global Initiative for Chronic Obstructive Lung Disease (GOLD), - seit 2014 Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Leibniz-Zentrums für Medizin und Biowissenschaften, Borstel, - seit 2015 Vorsitzender der Deutschen Lungenstiftung
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