Gastbeitrag

Der steinige Weg zur Priorisierung

Die Belastungen der Finanzkrise führen in vielen Ländern Europas schon heute zu Einschnitten bei Sozialleistungen. Auch das deutsche Gesundheitswesen wird langfristig nicht verschont bleiben. Priorisierung wäre nötig - aber das ist ein steiniger Weg.

Von Professor Fritz Beske Veröffentlicht:
Der steinige Weg zur Priorisierung

© IGSF

Professor Fritz Beske

Aktuelle Position: Leiter des Instituts für Gesundheits-System-Forschung (IGSF) Kiel.

Ausbildung: Medizinstudium, Promotion 1951, Assistent am Hygiene-Institut der Uni Kiel bis 1958, 1954/55 Public Health Studium in den USA, MPH.

Karriere: Beamter im Innenministerium, in der WHO, Staatssekretär im schleswig-holsteinischen Gesundheitsministerium 1971 bis 1981, 1975 Gründung des IGSF und dessen Direktor.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat auch die Gesundheitsversorgung erreicht. In vielen Ländern Europas, die akut von der Zahlungsunfähigkeit bedroht sind - Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und Großbritannien -, werden Leistungen im Sozialbereich gekürzt, darunter auch in der Gesundheitsversorgung.

Eine vergleichbare Entwicklung ist auch in den USA zu beobachten. Die vom Kongress beschlossenen Ausgabenkürzungen betreffen auch Medicare und Medicaid.

Längerfristig wird auch Deutschland nicht um Einschnitte umhin können.

Hierzu stehen sich zwei Auffassungen diametral gegenüber: die der Ärzteschaft und die der Politik. Die Ärzteschaft vertritt die Meinung, dass die Versorgung der GKV-Versicherten mit notwendigen Leistungen bei begrenzten Finanzmitteln ohne Einschränkungen des Leistungskatalogs nicht möglich ist.

Als Methode der Wahl wird eine Priorisierung von Leistungen propagiert: eine Rangfolge von Leistungen nach Wertigkeit. Damit können Leistungen eingeschränkt, aber auch insgesamt als Rationierung ausgeschlossen werden.

Die Politik lehnt jede Form von Priorisierung und Rationierung als unbegründet ab. Im Gegenteil. Unverändert werden die Leistungen der GKV erweitert mit dadurch entstehenden zusätzlichen Kosten, und dies bei den vorhersehbaren Auswirkungen des demografischen Wandels und des medizinischen Fortschritts.

Solange eine Priorisierung von Leistungen Gegenstand theoretischer Diskussionen ist, bleibt der Widerstand gering. Aber: Der Weg von der Theorie oder auch vom Ideal zur Wirklichkeit ist mit Steinen gepflastert.

Worum geht es?

Von drei Seiten, der Bundesärztekammer, dem Ethikrat der deutschen Ärzteschaft und von einer von Professor Heiner Raspe in Lübeck ins Leben gerufenen Bürgerkonferenz, sind Grundsätze und Kriterien der Priorisierung entwickelt und veröffentlicht worden.

Diese Grundsätze und Kriterien legen die Voraussetzungen für Priorisierungsmaßnahmen fest. Wesentliche Inhalte der Grundsätze sind:

  • Bedarf
  • Effizienz
  • ethische Akzeptanz, Beachtung der Menschenwürde und der Selbstbestimmung sowie Gleichheit
  • Information und Transparenz.

Als Kriterien zur Priorisierung werden genannt:

  • Bedarfsgerechte Verteilung
  • Innovation und Fortschritt in der Medizin
  • kalendarisches Alter und Generationengerechtigkeit
  • Wirksamkeit und Kosteneffizienz
  • Lebenserhaltung und Dringlichkeit der Behandlung
  • Lebensqualität
  • Patientenwille und
  • Wartezeit.

Ein Gremium soll Vorschläge für die Priorisierung erarbeiten; in diesem Gremium sollen vertreten sein:

  • Ärzte
  • Ethiker und Theologen
  • Gesundheitsökonomen, Sozialwissenschaftler und Juristen
  • Patientenvertreter

Und damit beginnt das Problem. Innerhalb eines Krankheitsbildes oder einer Indikation lässt sich eine Rangfolge von diagnostischen und therapeutischen Leistungen auch ohne Öffentlichkeit entwickeln, denn dies ist in erster Linie eine rein ärztliche Aufgabe.

Der Sinn von Priorisierung und Rationierung liegt aber letztlich darin, Vorschläge für Einschränkungen des Leistungskatalogs der GKV - indikationenübergreifend - zu entwickeln. Denn anders sind Ausgaben-reduktionen in dem Umfang, wie dies erforderlich sein dürfte, nicht zu erreichen.

Es gehört nicht viel Phantasie dazu sich vorzustellen, wie bei der vorgeschlagenen Zusammensetzung des Gremiums und bei den angeführten Voraussetzungen und Kriterien für Priorisierungen und für Leistungseinschränkungen jeder Vorschlag von einer der beteiligten Gruppen mit mindestens einer der genannten Voraussetzungen oder Kriterien abgelehnt werden kann, nicht selten aus ethischen oder sozialen Gründen.

Dies ist das Dilemma, vor dem das Gremium steht, begründete und umsetzbare Vorschläge für Priorisierung und Rationierung zu entwickeln und öffentlich zu diskutieren.

Und gerade das geht nicht. Denn Wer mit ethischen oder sozialpolitischen Argumenten eine Priorisierung oder eine Kürzung von Leistungen verhindert, muss sagen, wo denn sonst gespart werden soll. Es ist ein Dilemma, das gelöst werden muss - so oder so.

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Kommentare
Dr. Jürgen Schmidt 25.08.201116:24 Uhr

Wie man ein gutes Argument sinnlos verfeuert

In Prof. Beske und seinem Institut hat die deutsche Ärzteschaft eine verdienstvolle argumentative Stütze für zentrale berufspolitische Belange und gesundheitsökonomische Auseinandersetzungen.

Die Priorisierungsdebatte, von der Bundesärztekammer initiiert, darf jedoch - womit die Gesundheitspolitiker immer wieder kontern - nicht isoliert, sondern muss im Zusammenhang mit einer Rationalisierungsdebatte betrachtet werden, die von der Ärzteschaft praktisch nicht geführt wird.
Dabei geht es um die Umlenkung von Ressourcen aus Leistungsbereichen, wie z.B. der invasiven Cardiodiagnostik, MRT, nicht zuletzt auch der Hausbesuche, die samt und sonders mit einer Frequenz erbracht werden, die europaweit nicht ihresgleichen hat.

Solange diese Rationalisierungsdebatte weder ernsthaft geführt wird, geschweige denn zu einem Ergebnis gelangt, läuft man mit der Priorisierungsdebatte in das offene Messer aller - auch der wohlgesonnenen - Gesundheitspolitiker.

Dr. Thomas Georg Schätzler 25.08.201113:46 Uhr

Nicht Priorisieren und Triagieren sondern Kurieren und Stabilisieren!

Unser Gesundheitswesen steht im Spannungsfeld zwischen Solidarität und Verantwortung. Beides muss gefördert und gestärkt werden:

1. Den GKV-Versicherten dürfen nicht uferlose Leistungs- und Versorgungsansprüche von ihren Krankenkassen suggeriert werden. Diese verschweigen systematisch ihren Versicherungsnehmern das "Wirtschaftlichkeitsgebot" nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) V. Dort heißt es verbindlich für die Gesetzliche Krankenversicherung in § 12, Absatz 1

"Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen."

Wenn dieses positive Leistungsbild, das die GKV-Kassen immer verschämt verschweigen, bei jedem Patienten/-in und in Klinik bzw. Praxis an die Wand genagelt würde, könnten wir diese "All-you-can-eat"- und "Flatrate"-
Mentalitäten im Gesundheitswesen begrenzen.

2. GKV-Beitrags s e n k u n g e n sind sofort möglich, wenn die Beitragsbemessungsgrenze (BBG) e r h ö h t wird. Denn jenseits von 3.712,50 € pro Monat Brutto BBG zahlen weder gutverdienende Arbeitnehmer noch Arbeitgeber einen weiteren Cent Krankenkassenbeitrag. Die finanzielle Hauptlast tragen die kleinen und mittleren Einkommensgruppen mit 15,5 % vom Brutto (8,2% AN - 7,3% AG) für die GKV. Wer 8.000 € mtl. brutto hat, zahlt nur 7,2% in die GKV ein (AN 4,05% und AG 3,15%): Damit bleiben jährlich 51.450 € bzw. monatlich 4.287,50 € GKV-Beitrag f r e i ! (AN=Arbeitnehmer, AG=Arbeitgeber)

3. Der vom Altmeister Professor Fritz Beske vorgeschlagene "steinige Weg zur Priorisierung" ist nichts anderes als eine Leistungs r a t i o n i e r u n g und führt zu einer unseligen Triage, nach der sich medizinische Leistung mit hohen, mäßigen oder fehlenden Erfolgsaussichten noch "lohnen" sollen oder nicht. Bürokratische Priorisierungs-Gremien sollen dann am grünen Tisch entscheiden, bei wem welche medizinischen Maßnahmen wann, wo, wie und warum durchgeführt werden könnten?


Zur Entrümpelung des Leistungskatalogs der GKV u n d Fortschreibung prioritärer Gesundheitsziele gibt es bereits genügend Instrumentarien, Herr Kollege, Prof. Beske! Und das ist n i c h t Ihr Kieler IGSF, auch nicht der verstaubte Gemeinsame Bundesausschuss G-BA, das IQWiG oder die Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Sondern das ist der medizinische Fortschritt mit Innovationen und Wettbewerb in Forschung, Wissenschaft, Lehre, Pharmazie, Krankenversorgung, Pflege, Rehabilitation, Palliation, Versorgungsforschung und, nicht zu vergessen, kompetenter Professionalität und Erfahrung in allen beteiligten Berufsgruppen. Denn wenn wir "Helferinnen und Helfer" vor einem konkreten Krankheitsproblem, vor einer vitalen Einschränkung oder dramatischen Zuspitzung keineswegs hilflos, sondern aktiv nach Lösungsstrategien suchend stehen, bringt uns Ihre Priorisierungsdebatte im Elfenbeinturm keinen Deut weiter.

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

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