Morbi-RSA

Mehr Geld für Tote

Der Gesundheitsfonds klingt so einfach: Je nach Versicherten bekommen die Kassen mal mehr, mal weniger Geld. Doch der Teufel steckt im Detail - genauer: bei den Toten. Jetzt soll eine fehlerhafte Rechenformel geändert werden. Das sorgt für Ärger, es geht um Millionen Euro.

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George Washington auf dem Sterbebett: Seine Versicherung musste sich um den Morbi-RSA keine Gedanken machen.

George Washington auf dem Sterbebett: Seine Versicherung musste sich um den Morbi-RSA keine Gedanken machen.

© imagebroker / imago

BERLIN (nös). Ein altes Problem sorgt für eine neue Diskussion - weil es abgeschafft werden soll. Die Rede ist von sogenannten "unvollständigen Versicherten" im Gesundheitsfonds.

Unvollständig sind sie immer dann, wenn sie kein ganzes Jahr Mitglied in der GKV sind - etwa Neugeborene, Zuwanderer und Tote.

Diese Versicherten sind für den Gesundheitsfonds eine kleine Herausforderung, denn sie produzieren in diesem betreffenden Jahr nur anteilig Kosten. Und auch ihre Krankenkasse erhält nur für exakt diejenigen Tage Überweisungen aus dem Fonds, an denen der Versicherte auch versichert war.

Die Zu- und Abschläge wiederum, die aus dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) für die Versicherten - je nach Alter, Geschlecht und Krankheitsdiagnosen - gezahlt werden, errechnet das Bundesversicherungsamt (BVA) aus den Ausgaben für alle vergleichbaren Versicherten, Risikogruppen genannt.

An dieser Stelle wird das Problem deutlich: Denn diese Ausgaben werden über das gesamte Jahr berechnet.

Die Erfinder des Morbi-RSA haben deswegen einen international üblichen Rechenstandard eingeführt: die Annualisierung.

Ein Beispiel: Die Ausgaben, die in den restlichen Monaten bis zum Jahresende für ein Neugeborenes entstehen, das im Juli geboren ist, werden auf das Gesamtjahr hochgerechnet und dann wiederum durch 365 beziehungsweise 366 geteilt.

Somit ergeben sich die durchschnittlichen Tagesausgaben, die für die Errechnung der Zu- und Abschläge ein realistisches Zahlenmaterial liefern.

Bei Neugeborenen, Zu- und Abwanderern und Wechslern aus der PKV funktioniert das - bloß nicht bei Versicherten, die mitten im Jahr sterben.

Sterbende sind teuer

Und das sind nicht wenige. Im Jahr 2009 waren 762.450 GKV-Versicherte gestorben. Das waren gerade einmal 1,1 Prozent aller Versicherten, aber sie verursachten gut 14,3 Prozent aller Ausgaben in der GKV.

Eine schlichte Weisheit: Am Lebensende sind Versicherte am teuersten. Im Schnitt verursachte 2009 ein Gestorbener GKV-Ausgaben von 26.769 Euro, ein "Überlebender" hingegen nur 2062 Euro.

Das Problem der Annualisierung bei gestorbenen Versicherten: Bei ihnen werden die Ausgaben nicht auf das Jahr hochgerechnet, sondern direkt durch die Zahl der Tage im Jahr geteilt.

Und weil der Durchschnitt der Gestorbenen auf wundersame Weise auch ziemlich in der Jahresmitte stirbt, geht bei der Berechnung der Gesamtausgaben auch die Hälfte der tatsächlichen Ausgaben verloren - sie wird bei der Zuschlagserrechnung für Versicherte mit ähnlichen Risikomerkmalen schlicht unterschlagen.

Ein sehr vereinfachtes Rechenbeispiel demonstriert die Tragweite: Die aus den Durchschnittswerten errechneten Gesamtausgaben aller Gestorbenen aus dem Jahr 2009 schlägt in der GKV mit satten 20 Milliarden Euro (sic!) zu Buche.

Wenn alle der 762.450 Gestorbenen exakt in der Jahresmitte von uns gegangen wären, würden die Mathematiker des Fonds bei der Ausgabenberechnung schlagartig 10 Milliarden Euro unberücksichtigt lassen - weil sie die Ausgaben vorher nicht hochgerechnet hatten.

Millionen Euro falsch umverteilt?

Im BVA und auch im wissenschaftlichen Beirat weiß man um dieses Problem - seit Jahren wird darüber diskutiert. Auch die Krankenkassen haben die Rechnung gemacht und wollen die Formel korrigieren.

Experten gehen davon aus, dass auf diese Weise jedes Jahr mehrere hundert Millionen Euro nicht richtig zugewiesen werden. Denn was einer Risikogruppe aus den Durchschnittsausgaben nicht zugerechnet werden kann, fließt in die pauschale Umverteilung ein und kommt nicht den Betroffenen zugute.

Der wissenschaftliche Beirat des Gesundheitsfonds hatte für Gestorbene eine durschnittliche Deckungsquote von nur 29,1 Prozent errechnet. Alles oberhalb davon müssen die Kassen auf andere Weise kompensieren.

Und so entsteht ein Berg an Geldern, der vor allem den Kassen mit jungen und gesunden Versicherten zugutekommt und den Kassen mit den älteren und kränkeren Versicherten fehlt.

Der AOK-Bundesverband, die Deutsche BKK, die Knappschaft Bahn-See und die DAK - Kassen mit vergleichsweise hoher Morbidität - haben deswegen beim BVA angeregt, auch für Gestorbene eine Annualisierung einzuführen.

Gegen diesen Vorschlag haben naturgemäß jene Kassen Einwände, die eine eher gute Morbiditätsstruktur unter den Versicherten haben, darunter die Innungskrankenkassen, die meisten Betriebskrankenkassen und die Techniker Krankenkasse.

Aus ihrer Sicht würde eine Annualisierung "zu einer unsachgemäßen Verteilung eines fiktiven Behandlungsbedarfs in Millionenhöhe führen", heißt es in den 290-seitigen Erläuterungen des BVA zur Festlegung des Berechnungsverfahrens für 2013.

Klares Votum vom BVA

Der IKK-Verband geht sogar davon aus, dass mit dieser Änderung das gesamte Finanzsystem aus dem Gleichgewicht gebracht werden könnte. Verbandschef Jürgen Hohnl: "Die bisher schon benachteiligten Krankenkassen verlieren durch die neue RSA-Methodik weiter an Boden."

Seine Warnung liest sich vor dem Hintergrund, dass vor allem Kassen mit hoher Morbidität mehr Zuweisungen aus dem Fonds bekommen. Mit der Änderung der Berechnung würden sie noch mehr aus dem Fonds überwiesen bekommen, da bei ihnen - so zumindest die saloppe These - mehr gestorben wird.

Für die Kassen mit gesunden Versicherten ergäbe sich hingegen eine negative Umverteilung, sie würden zu den Verlierern gehören. Hohnl warnt deswegen vor einzelnen Veränderungen am Morbi-RSA. Er plädiert eher für grundlegende Reformen: "Dafür ist eine Debatte im Parlament erforderlich."

Dennoch, das BVA scheint sich festgelegt zu haben. Es plädiert eindeutig für eine Änderung der Berechnungsformel. Allerdings soll die Annualisierung künftig vollständig gestrichen werden.

Statt ihrer wollen die Mathematiker künftig mit Pro-Tag-Werten arbeiten. Sämtliche Werte "unvollständig Versicherter" würden dann nicht mehr hochgerechnet werden müssen - die Ausgaben werden in diesem Modell schlicht durch die Anzahl der versicherten Tage geteilt.

Auch aus dem Bundesgesundheitsministerium ist offenbar kein Gegenwind zu erwarten. Das Berechnungsmodell kann das BVA selbstständig festlegen - die Risikostrukturausgleichsverordnung gibt der Behörde den nötigen Rahmen.

Allerdings: Ein Rechtsrahmen lässt sich immer auch ändern.

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Kommentare
Dr. Thomas Georg Schätzler 02.08.201220:59 Uhr

@ Denis Nößler, Redaktion Ärzte Zeitung, zum Morbi-RSA bei Moribunden!

Die Nachrichtenlage ist hektisch und schnelllebig. Deswegen möchte ich nicht versäumen, mich für diesen hervorragend geschriebenen und intensiv recherchierten Artikel zu bedanken. Mit detektivischer Akribie sind Sie fehlerhaften Rechenformeln, einem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) bei Moribunden, "Untoten" bei "unvollständigen Versicherten", Problemen der Annualisierung bei Gestorbenen und nicht zuletzt "einer unsachgemäßen Verteilung eines fiktiven Behandlungsbedarfs" nachgegangen.

Dazu würde ich mir in der ARD einen "Medizin-Tatort" mit Joe Bausch als Dr. Joseph Roth wünschen. Dietmar Bär alias Freddy Schenk bzw. Klaus J. Behrendt alias Max Ballauf müssten dann zwei GKV-Versicherungsmathematiker spielen, die dieses Morbi-RSA-Gestrüpp entwirren sollen.

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

? 01.08.201215:44 Uhr

Per E-Mail erreichte uns folgender Leserbrief von Dr. Gerhard Rachor

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich möchte Ihren sehr guten Artikel ergänzen. Bei der Annualisierung sollen nur jene Tode berücksichtigt werden, die an einer der Krankheiten aus den 80 HMG’s verstorben sind. Ist die Krankheit nicht in den HMG’s berücksichtigt, dann gibt es dafür kein Geld. Stirbt jemand zum Beispiel an den Folgen eines Unfalls oder eines Schlaganfalls werden die Kosten verallgemeinert. Sie können versichert sein, dass bei solchen Ereignissen die Deckungsquoten noch unter denen von Ihnen zitierten 29,1 % liegen. Die für alle Kassen gerechteste Lösung wäre die Wiedereinführung des Risikopools. Da bin ich der selben Meinung wie der Kollege von der IKK: Wenn man etwas ändern will, dann muss umfassend verändert werden und nicht nur umverteilt zu Gunsten einiger Kassen und einer Kassenart.
Interessanter Weise hat das BVA in einer Stellungnahme zu einem früheren Klassifikationsmodell die Annualisierung der Kosten von Toden mit der Begründung verworfen, dass damit die Ausgaben der Lebenden überkompensiert würden. Nun kommt das BVA mit einem neuen Rechenmodell, das im Ergebnis auf das Gleiche hinausläuft: Die Kosten der Lebenden werden überkompensiert. Wer also schon hat, dem wird mehr gegeben. Schön ist auch, dass davon nicht nur Krankenkassen sondern auch Bundesländer profitieren würden. Man braucht sich nur die Deckungsquoten Landkarte des wissenschaftlichen Beirates anzusehen, um eine Vorstellung davon zu bekommen. Bayern wird davon kaum profitieren, denn hier sind die meisten Landkreise schon jetzt tief rot gekennzeichnet.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Gerhard Rachor

Vorstandsvorsitzender
HVB BKK

Dr. Joachim-Michael Engel 01.08.201215:24 Uhr

Wenn Politiker sich an Regulativen versuchen ....

... dann kommt so etwas heraus. Gleiche Milchmädchenrechnungen liegen auch der Fallzahlberechnung und -vergütung für MVZ und Gemeinschaftspraxen zugrunde, wo die KV nicht die Arztfallzahl mit dem RLV multipliziert sondern prozntual vorher die "gemeinsamen Fälle" abzieht, z.B. 30% und dann auf das sich ergebende netto eine "Kooperationsaufschlag" in gleicher Höhe macht. Daraus resultiert dann ein Defizit im Honorar - denn wie jeder von der Berechnung der Mehrwersteuer brutto/netto weiß wenn der nettobetrag berechnet würde au 19% vom brutto!

Was lernen wir aus alledem (schon in alten Lesebüchern):
Schulze Hoppe als Wettermacher
Es war einmal im Oderbruch ein Schulze, der hieß Hoppe, dem konnte es der liebe Gott nie recht machen mit dem Wetter; bald war''s ihm zu trocken, bald regnete es zu viel, und da sagte der liebe Gott endlich: „Im nächsten Jahre sollst du das Wetter selbst machen."
So geschah es denn auch, und der Schulze Hoppe ließ nun abwechselnd regnen und die Sonne scheinen, und das Getreide wuchs, daß es nur so eine Freude war, mannshoch. Als es nun aber zur Ernte kam, waren alle Ähren taub; denn Schulze Hoppe hatte den Wind vergessen, und der
muß doch wehen, wenn das Getreide sich ordentlich besamen und Frucht tragen soll.
Seit der Zeit hat Schulze Hoppe nicht mehr übers Wetter gesprochen und ist zufrieden damit gewesen, wie es unser Herrgott gemacht hat.

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