Standard-Therapie der Kriegschirurgen auf der Krim war die Amputation
Im September 1854, vor 150 Jahren, hatte Europas lange Friedensphase ein Ende. Auf der Krim begann jener Krieg, der seither nach der damals noch russischen Halbinsel benannt ist. Für die Medizin war es ein Konflikt an einer Epochenwende - zum ersten Mal kam die Anästhesie in großem Maße in einem Katastrophengebiet zum Einsatz. Doch Infektionen, Epidemien und Kälte forderten ihren Tribut - auch unter den Ärzten...
"Ich traf den armen Captain Ramsay, als er auf einer Trage wegtransportiert wurde. Er war ganz augenscheinlich schwer verwundet und so ließ ich ihn zu meinem Zelt bringen, damit ich ihn während des Tages regelmäßiger besuchen konnte. Der arme Ramsay lebte jedoch nur noch eine Stunde, er hatte eine tödliche Wunde in der Brust erhalten und, unabhängig davon, hatte er nicht weniger als sechs Bajonettwunden in den verschiedenen Körperteilen erlitten.
Niemals werde ich seine Contenance vergessen, als er meine Hand ergriff und, indem er auf seine Wunden zeigte, von den barbarischen Qualen zu berichten, die man ihm zugefügt hatte." Berichte wie dieser aus der Feder eines englischen Militärchirurgen sind in großer Zahl aus dem Krimkrieg erhalten.
Zum ersten Mal berichtete ein Kriegskorrespondent live
Der Konflikt zwischen dem zaristischen Rußland einerseits und einer Koalition aus Großbritannien, Frankreich und der Türkei andererseits war in medialer Hinsicht der erste moderne Krieg: Zum ersten Mal berichtete ein hauptberuflicher Kriegskorrespondent, William Howard Russell, live (per Kabel) von einem Kriegsschauplatz. Die Leser der "Times" erfuhren bei ihrem Frühstückstee mit Porridge über das Leiden an der fernen Front und auch über die Schwierigkeiten der medizinischen Versorgung, von denen Dutzende von Tagebüchern und Briefsammlungen beteiligter Ärzte künden.
Sowohl die britische wie die französische Regierung schickten im Laufe des Krieges mehrere Hundert Ärzte auf die Krim - auf die Greuel, die sie dort erwarteten, waren die Doctores kaum vorbereitet. Ein Offizier beklagte sich: "Die große Mehrzahl von ihnen auf der Krim hat noch nie eine Schußwunde vor der Schlacht von Alma gesehen, sie haben nie eine wirklich große Operation durchgeführt. Brush und Chapple vom Grauen [Regiment] arbeiteten mit hochgekrempelten Ärmeln, die Arme blutig, die Gesichter genau so; sie sahen mehr wie Metzger denn wie Chirurgen aus."
Die Standard-Therapie der Chirurgen war, wie in so vielen Kriegen vorher, die Amputation. Joseph Skelton, Chirurg des Eliteregiments der schottischen "Coldstream Guards", notierte kurz nach der Schlacht von Inkerman im November 1854: "18 Amputationen wurden durchgeführt; davon war eine an der Hüfte und drei im Schultergelenk, sowie viele kleine Eingriffe. Alle Patienten überlebten die unmittelbaren Auswirkungen der Operation.
Die Ausnahme war der Offizier mit der Hüftamputation, ein Eingriff, zu dem wir uns erst nach Konsultation mit jedem Chirurgen in der Gegend entschlossen hatten. Er starb fast augenblicklich an dem großen Schockzustand." Diese Erfahrung findet ihre Entsprechung in den Operationsstatistiken. Die Aussicht, bei oder nach eine Unterarmamputation zu sterben, lag bei 23 Prozent, nach einer Oberschenkelamputation bei 86 Prozent und nach einer Hüftamputation bei 100 Prozent.
Wie in fast allen Kriegen davor, starben mehr Menschen infolge der Therapie oder an Seuchen als direkt durch die Kampfhandlungen: Die Statistik der britischen Streitkräfte spricht von 2755 Soldaten, die in den drei Kriegsjahren im Kampf fielen, von 1761 Soldaten, die ihren Verletzungen - sprich: nach medizinischer Versorgung - erlagen und der fast unglaublichen Zahl von 16 297 Opfern von Krankheiten, unter denen die Cholera hinter der Dysenterie an zweiter Stelle lag.
Im Lazarett starb fast jeder zweite Kranke
Erschütternd ist vor allem eine Zahl: 42 Prozent der britischen Patienten, die in ein Lazarett oder Hospital kamen, verließen dieses nicht lebend. Ein Lichtblick immerhin: Dank großzügigen Einsatzes von Chloroform konnten zumindest auf dem Op-Tisch der Schmerz der Unglücklichen gelindert werden.
Hinter dem Ruhm, den sich Florence Nightingale im Krimkrieg erwarb, ist die Tätigkeit der Ärzte jenes Konfliktes ein wenig in Vergessenheit geraten - wie auch ihr eigenes Leid: Von den 720 auf der Krim eingesetzten britischen Chirurgen fanden 52 den Tod, bei den französischen Alliierten waren es fast doppelt so viele. Helden, die im Gegensatz zu den Dragonern in Alfred Tennysons Gedicht "Charge of the Light Brigade" nie besungen wurden.