50 Millionen Europäer starben im Mittelalter an Pest
Der große Pestzug der Jahre 1347 bis 1351 hat Europa in wesentlich stärkerem Maße verwüstet als bislang vermutet. Von den 80 Millionen Einwohnern des Kontinentes starben 50 Millionen am "Schwarzen Tod". Diese Berechnung des norwegischen Historikers Ole Benedictow liegt doppelt so hoch wie die bisher unter Medizinhistorikern vermutete Zahl der Opfer.
Der an der Universität Oslo lehrende Benedictow hat mit seiner umfassenden Studie zum Schwarzen Tod, die jetzt in England veröffentlicht wurde, für Aufsehen gesorgt. Das Ergebnis langjähriger Forschungen, vor allem im Süden Rußlands, dessen Quellen westlichen Forschern bis vor kurzem nicht zugänglich waren, zeichnet die große Pestepidemie des 14. Jahrhunderts als die größte Katastrophe der europäischen Geschichte.
Sowohl von der Zahl der Opfer als auch von den langfristigen Konsequenzen stellt das Wüten von Yersinia pestis (der Erreger wurde erst 1894 von Alexandre Yersin identifiziert) alle späteren, von Menschenhand verursachten Katastrophen in den Schatten. Nicht nur in Südosteuropa, sondern auch in Skandinavien starben mehr Menschen als angenommen, bewegte sich die Seuche schneller als vermutet.
Benedictow räumt in seinem Buch mit einigen Mythen auf wie jenem, wonach die Pest in China ihren Ursprung hatte. Ausgebrochen ist sie vielmehr im weiter westlich gelegenen Khanat der Mongolen. Ins Reich der Legende gehört wohl auch die hübsche Geschichte, daß die mongolischen Belagerer der christlichen Handelszentrale Kaffa (das heutige Feodosia) auf der Krim die Leichen von Pesttoten per Katapult in die Stadt hineinschleuderten - die Yersinia pestis übertragenden Flöhe verlassen toten Körper, die selbst nicht ansteckend sind.
Die Katapultgeschichte mit ihrer klaren Zuordnung der Übeltäter - Ketzer und Barbaren, die zu einer Art mediävaler biologischer Kriegführung griffen - stammt aus der Feder des Gabriele de Mussis aus Piacenza, der 1348 über die Pest in Italien geschrieben hat. Der Edelmann indes war niemals auf der Krim.
Eine Absage erteilt der Osloer Professor auch sogenannten revisionistischen Historikern wie Norman Cantor und Susan Scott, die in der Seuche eine Form von Anthrax oder das Wirken eines Ebola-ähnlichen Virus sehen. Der Ausbreitungsweg, das Sistieren im Winter, und die in den Quellen überlieferten Symptome sprechen eindeutig für die Beulenpest.
Der Schwarze Tod hatte langfristig enorme Auswirkungen. Der Arbeitskräftemangel schwächte die Aristokratie zugunsten der Zentralgewalt, vielerorts des Königtums. Auch das Vertrauen in die Kirche nahm ab - die Seuche habe als allererste Vorstufe in der Genese der Reformation fungiert, meint der norwegische Forscher.
Eines war der Schwarze Tod nicht: schwarz. Weder 1348 noch bei den Pestzügen der nächsten vier Jahrhunderte (die letzte Epidemie in unseren Breiten soll sich 1720 in Marseille zugetragen haben) verfärbten sich die Opfer. Es handelt sich bei dem Terminus um eine Fehlübersetzung aus dem Lateinischen: "atra mors" - Grausamer Tod. Dies allerdings war und ist die Pest, zu allen Zeiten.
Da Norwegisch als Sprache der Wissenschaft eine nur begrenzte Reichweite hat, verlegte Ole Benedictow das Buch mit dem Untertitel, der alles über des Werkes Anspruch sagt, in England: "The Black Death 1346 - 1353: The Complete History". Boydell Press. Preis: 30 Pfund (das sind etwa 45 Euro).