Outsider-Kunst
Tierische Wandmalerei eines Psychiatrie-Patienten
In den 50er Jahren hat der psychisch kranke Straftäter Julius Klingebiel über Jahre die meterhohen Wände in seiner Göttinger Zelle bemalt. Jetzt kann das Kunstwerk besichtigt werden.
Veröffentlicht:GÖTTINGEN. Das "Feste Haus" in Göttingen ist nicht gerade eine Adresse für Kunstliebhaber. In dem hoch gesicherten Gebäude, das heute zum Maßregelvollzugszentrum Moringen gehört, sind etwa 30 psychisch kranke Straftäter untergebracht.
Die Öffentlichkeit hat keinen Zutritt. Deshalb kennt auch kaum jemand den kulturellen Schatz, der sich in Zelle 117 im ersten Obergeschoss befindet: Hier hat in den 1950-er Jahren der Psychiatrie-Patient Julius Klingebiel (1904-1965) aus Hannover eingesessen und unermüdlich die meterhohen Wände seiner Zelle bemalt.
Heute gelten seine Wandmalereien als eines der bedeutendsten Werke der sogenannten "Outsider"-Kunst. Um das Ensemble zu retten und bekannt zu machen, haben die Direktoren dreier früherer Landeskrankenhäuser (Wunstorf, Moringen und Göttingen) in einer gemeinsamen Initiative die Zelle rekonstruieren lassen. Sie ist jetzt als begehbare Rauminstallation erlebbar.
Ein schmaler Streifen blieb unbemalt
Zwölf Jahre - von 1951 bis 1963 - war Justus Klingebiel in der knapp zehn Quadratmeter großen Zelle untergebracht, die er durch die Malereien zu "seiner" Zelle machte.
Nur einen schmalen Streifen unter der Decke ließ er unbemalt, ansonsten hat er nicht einen Quadratzentimeter frei gelassen. Seine Malereien bilden ein beeindruckendes Sammelsurium an Formen und Motiven, die durch die mosaikartige Gestaltungsweise seltsam starr wirken.
Die Wandflächen sind bevölkert von Löwen, Tigern und anderen exotischen Tieren. Am stärksten ins Auge fallen die großen Darstellungen indischer Axis-Hirsche.
Diese Tiere seien Mitte der 1920-er Jahre im Zoo Hannover zu sehen gewesen, erläutert der Facharzt für Psychiatrie und frühere Direktor des Landeskrankenhauses Wunstorf, Professor Andreas Spengler.
Vermutlich habe Klingebiel häufiger den Tierpark besucht. Was er als Psychiatriepatient in seiner Zelle geschaffen habe, sei hochkarätige Kunst: "Weltweit gibt es gerade mal eine Handvoll vergleichbarer Ensembles", sagt Spengler.
Klingebiel hat sein Werk nie als fertig betrachtet, sondern immer wieder einzelne Partien übermalt. Auffällig ist sein Bemühen, durch Linien, Umrahmungen und andere strukturierende Elemente in dem Gewusel unterschiedlichster Motive eine Ordnung zu schaffen.
Immer wieder malte er Wimpel, Fahnen und Abzeichen, außerdem Schiffe, Zeppeline, Raketen und Flugzeuge sowie Männer- und Frauengestalten. Auch die politische Entwicklung thematisierte er, an einer Stelle ist etwa Adolf Hitler in typischer Redner-Haltung abgebildet.
Diagnose Schizophrenie
Dass Klingebiel die NS-Zeit überlebt hat, grenzt an ein Wunder. 1939 war der Schlosser als "gefährlicher Geisteskranker" in die Psychiatrie eingewiesen worden, zunächst in die Nervenklinik Langenhagen, dann in die Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf.
1940 wurde er als Opfer der NS-Rassengesetze zwangssterilisiert und in das damalige gefängnisartige "Verwahrhaus" in Göttingen verlegt. Als Patient mit der Diagnose Schizophrenie hätte er eigentlich unter das Tötungsprogramm der Nationalsozialisten fallen müssen, aus unbekannten Gründen tauchte er aber nie auf den Meldelisten auf.
Klingebiel blieb bis zu seinem Tod 1963 in der Psychiatrie untergebracht, ohne dass es je einen richterlichen Beschluss gegeben hätte. Damit verkörpere er auch ein Stück Psychiatriegeschichte, sagte der Ärztliche Direktor des Asklepios Klinikums (früher LKH) in Göttingen, Dr. Manfred Koller.
Dort ist eine Ausstellung über Klingebiels Leben und Werk eröffnet worden, in der noch bis zum 31. August auch die begehbare Rauminstallation zu sehen sein wird.
Was aus der Original-Klingebiel-Zelle wird, ist unklar. Vor kurzem haben die Bauarbeiten für einen Neubau des "Festen Hauses" begonnen. Es wird voraussichtlich Ende 2015 fertig sein. Dann muss eine neue Nutzung für das Hochsicherheitsgebäude gefunden werden.
Einfach abreißen kann man es nicht: Seit 2012 steht die Zelle 117 unter Denkmalschutz.
Nachtrag: Die Ausstellung in Göttingen ist inzwischen beendet. Die Rauminstallation ist nun vom 14.9. bis 10.11.2013 in Heidelberg zu sehen.
Weitere Informationen auf www.julius-klingebiel.de