Zehn Jahre Nagelbomben-Attentat

Ein perfider Anschlag und seine Opfer

Am 9. Juni 2004 explodiert in der vor allem von Migranten bewohnten Keupstraße in Köln eine Nagelbombe. Ein heimtückischer Anschlag - 22 Menschen werden verletzt, einige lebensgefährlich. Zehn Jahre später: Viele Betroffene leiden weiter an Spätfolgen.

Von Anja Krüger Veröffentlicht:
Ort mit tragischer Geschichte: Keupstraße in Köln.

Ort mit tragischer Geschichte: Keupstraße in Köln.

© Florian Schuh / imago

KÖLN. Die massiven Schäden an den Fassaden und in den Geschäftsräumen sind längst beseitigt. Wer nach Hinweisen auf den Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße sucht, muss genau hinschauen.

Nur ein kleines Schild im Schaufenster des Friseurs, vor dessen Laden die Bombe explodierte, erinnert an das schreckliche Ereignis. "Gegen Hass und Gewalt", steht darauf, auch auf Türkisch. Äußerlich scheint der Anschlag bewältigt. Doch die inneren Wunden der Anwohner sind längst nicht verheilt.

"Mein Mann kann bis heute nicht über die Bombenexplosion sprechen, ohne in Tränen auszubrechen", sagt eine Bewohnerin der Straße, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Sie hat Angst.

"Das glaube ich nie im Leben, dass die drei alleine den Anschlag verübt haben", sagt sie in Anspielung auf die rechtsextreme Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), die nach bisherigen Erkenntnissen aus dem Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe bestand. Ihnen werden eine beispiellose Mordserie und Anschläge wie der in Köln-Mülheim zugeordnet.

Explosion vor einem Friseursalon

Es war ein Mittwoch mit schönem Wetter im Jahr 2004, an dem sich in der Keupstraße alles änderte. Gegen 16 Uhr explodierte vor dem Friseursalon eine mit Zimmermannsnägeln gespickte Bombe, die auf einem Fahrrad deponiert war.

Wie durch ein Wunder kam niemand ums Leben. Eine Ladenbesitzerin von gegenüber hatte gerade auf der Straße eine Zigarette geraucht und war in den hinteren Teil des Geschäfts gegangen. Doch 22 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt.

Am 9. Juni jährt sich die Explosion der Nagelbombe zum zehnten Mal. Am Pfingstwochenende wird Köln mit einem Kunst- und Kulturfest und einer Großkundgebung des Anschlags gedenken. "Birlikte - Zusammenstehen" lautet das Motto der Feierlichkeiten und des Bündnisses aus vielen Initiativen und der Stadt Köln, das sie organisiert.

Bei dem Kulturfest treten unter anderem die Kölner Kult-Band BAP sowie die Sänger Peter Maffay und Udo Lindenberg auf. Eröffnet wird die Großkundgebung, zu der rund 70.000 Menschen erwartet werden, von Bundespräsident Joachim Gauck. Die Geschäfte in der Keupstraße werden geöffnet sein.

Die Veranstaltung kann den Opfern bei der Verarbeitung des Geschehens helfen, sagt der Psychotherapeut Dr. Ali Kemal Gün aus der Klinik des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) in Köln-Merheim.

"Diesen Menschen ist großes Unrecht angetan worden", sagt Gün, der auch Integrationsbeauftragter der LVR-Klinik Köln ist. "Jetzt bekommen sie die Wertschätzung von der Mehrheitsgesellschaft, die sie brauchen. Das kann ihnen verloren gegangene Sicherheit und Vertrauen wiedergeben."

Unmittelbar nach dem Anschlag waren die Leidtragenden nochmals zum Opfer geworden - dieses Mal durch die Ermittlungsbehörden. Die Straße wird überwiegend von Migranten frequentiert, viele Geschäfte und Restaurants gehören türkischstämmigen Einwanderern.

Doch die Behörden verwarfen schnell den Gedanken, dass die Bombenexplosion auf das Konto von Neonazis gehen könnte. Nur einen Tag nach dem Anschlag erklärte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD): "Alle Erkenntnisse deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu hin."

Opfer werden wie Täter behandelt

Das hatte schlimme Konsequenzen: Über Jahre wurden die Opfer wie Täter behandelt, immer wieder ins Polizeipräsidium vorgeladen und verhört - mitunter nachts um drei. Die Fahnder ermittelten in Richtung Bandenkrieg, mafiöse Zusammenhänge und Schmiergelderpressung, setzten Familien unter Druck und spielten die Bewohner der Straße gegeneinander aus.

Einen Ermittlungserfolg konnten sie freilich über Jahre nicht vorweisen. "Das Verhalten der Polizei hat in einem nicht zu unterschätzenden Maße das Trauma verstärkt, das die Opfer erlitten haben", sagt Psychotherapeut Gün. Nach dem Auffliegen der Terrorzelle NSU im November 2011 änderte sich die Lage. Heute gehen die Behörden davon aus, dass der NSU den Anschlag verübt hat.

Das Verhalten der Polizei hat die Wunden vertieft, sagt auch Ali Demir. Er war seinerzeit Vorsitzender der Interessengemeinschaft Keupstraße, in der Nachbarn und Geschäftsleute zusammengeschlossen sind.

Demir hatte früher sein Steuerbüro in unmittelbarer Nähe des Explosionsortes. Dort erlebte er den Anschlag, hörte den ohrenbetäubenden Knall und ging unter seinem Schreibtisch in Deckung. Er ist aus der Keupstraße weggezogen.

Vor dem Anschlag war die Keupstraße eine florierende Geschäftsstraße mit einem bunten Gemeinschaftsleben. Nach dem Anschlag sind die Umsätze in den Läden und Restaurants eingebrochen, viele Geschäftsleute mussten Mitarbeiter entlassen. Die einst gute Nachbarschaft ist durch das von den Ermittlern gesäte Misstrauen gestört. Die Straße wird nie wieder wie sie einmal war, fürchtet Demir.Noch immer meiden vor allem Deutsche die Straße.

Kölns Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD) und Polizeipräsident Wolfgang Albers haben sich mittlerweile bei den Opfern für das Verhalten der Behörden entschuldigt. Aus gutem Grund.

Der Anschlag hat unter den Anwohnern der Keupstraße Schocks und Panik ausgelöst, sie waren extrem verunsichert, sagt Psychotherapeut Gün. "Alle Menschen, die so ein Ereignis erlitten haben, haben Angst", sagt er.

"Der Anschlag und die Verdächtigungen durch die Polizei haben bei den Anwohnern Vertrauen zerstört." Statt den Opfern zu helfen, hätten die Behörden sie unter Druck gesetzt. "Ihnen ist jahrelang keine psychologische Hilfe angeboten worden", kritisiert Gün.

Albträume und leichte Reizbarkeit

Anwohner in der Keupstraße und regelmäßige Besucher fürchten, dass sich der Anschlag wiederholen könnte. "Diejenigen, die traumatisiert sind, denken auch viele Jahre später: Das kann jederzeit wieder passieren", erklärt er. "Es ist, als würden sie auf heißer Lava laufen. Sie sind in ständiger Angst und jedes Ereignis, das ähnlich ist, löst Panik aus."

Einige haben eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, die sich unter anderem in Flashbacks, Albträumen, leichter Reizbarkeit, emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit oder Depressivität äußert. "Die Person, die traumatisiert ist, merkt das in der Regel selber nicht beziehungsweise kann den Zusammenhang nicht herstellen", sagt er.

Gün war regelmäßiger Kunde des Friseurs, vor dessen Geschäft die Bombe explodierte. Einen der Mitarbeiter traf er später in der LVR-Klinik, in der Gün als psychologischer Psychotherapeut tätig ist.

Der Friseur beging Jahre nach dem Anschlag Suizid. "Er hatte Probleme, aber dieses Ereignis hat sehr stark zur Verstärkung und Verschlimmerung seiner Probleme geführt", sagt Gün.

Die Behörden wissen, dass die Opfer von Gewalttaten Hilfe brauchen. Nach dem Anschlag vor 21 Jahren in Solingen, bei dem fünf Menschen starben, stellten sie umgehend ein Psychologenteam zusammen, zu dem auch Gün gehörte. "Das Verhalten der Behörden nach den Anschlägen von Solingen und in der Keupstraße unterscheidet sich wie Tag und Nacht", sagt er.

Die Solinger Familie Genc wurde psychologisch betreut, ihre Ängste wurden ernst genommen. Politiker kondolierten und drückten ihre Wertschätzung aus. Die Gesellschaft zeigte auf vielfache Weise, dass sie hinter den Opfern steht und den Anschlag verurteilt. "All das hat der Familie Sicherheit und Vertrauen zurückgegeben", sagt Gün. "Ich glaube, das ist der Grund, warum die Familie in Deutschland geblieben und nicht, wie sie überlegt hat, in die Türkei gegangen ist."

Aus der Keupstraße sind nach dem Anschlag viele Anwohner weggezogen, einige wie Ali Demir ein paar Straßen weiter, andere weit weg. Viele sprechen nicht gut deutsch, jedenfalls nicht gut genug für eine Therapie auf deutsch.

Selbst wenn sie aus eigener Initiative oder auf Drängen von Freunden oder Verwandten psychotherapeutische Hilfe zur Verarbeitung des traumatischen Erlebnisses gesucht hätten, hätten sie kaum welche gefunden, kritisiert Psychotherapeut Gün. "Ich bin Vertreter der Migranten in der Kommunalen Gesundheitskonferenz und ich weiß, dass wir absolut defizitäre Strukturen haben, was die psychotherapeutische Versorgung von Migranten angeht", sagt er.

In Köln gibt es sehr wenige Vertragspsychotherapeuten, die muttersprachliche Therapien anbieten. "Die Wartezeit für deutsche Patienten liegt schon bei drei bis vier Monaten", sagt er.

Migranten warten bei muttersprachlichen Psychotherapeuten bis zu zwei Jahre auf einen ersten Termin oder bekommen gar keine Behandlung. "Wer die Ereignisse auf der Keupstraße ernst nimmt, muss an den Versorgungsstrukturen einiges ändern", sagt Gün.

Späte Folgen: Schmerz, Depressionen, Panikattacken

Martina Hille von der Diakonie Köln hat eine Lotsenfunktion. Sie hilft Opfern zum Beispiel bei der Suche nach einem Therapieplatz, sie unterstützt, vermittelt, hört geduldig zu. Und sie weiß: Für viele sind die Ereignisse von damals noch nicht abgeschlossen.

Ethnologin Martina Hille.

Ethnologin Martina Hille.

© Anja Krüger

Verfolgung durch die Polizei statt Hilfe von Unterstützern - das erlebten die Opfer des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße über viele Jahre. Denn die Polizei unterstellte ihnen kriminelle Machenschaften wie Bandenkrieg und Schutzgelderpressung. Erst nach Auffliegen der rechtsextremen Terrorzelle NSU hat sich das geändert.

"Die Tatsache, dass die Beschuldigten von den Ermittlern zunächst in die Position der Beschuldigten gebracht wurden, hat zu einer zusätzlichen Verletzung der Betroffenen geführt", sagt der Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD). Gemeinsam mit dem Landschaftsverband Rheinland und der Diakonie Köln hat die Stadt im vergangenen Jahr eine Beratungsstelle für die Opfer des Anschlags eingerichtet, der sich am 9. Juni zum zehnten Mal jährt.

Dabei handelt es sich allerdings nicht um ein Therapieangebot, betont Martina Hille von der Diakonie Köln, die die Ratsuchenden betreut. Hille hat eine Lotsenfunktion. Sie hilft zum Beispiel bei der Suche nach einem Therapieplatz, unterstützt Klienten beim Stellen von Kuranträgen oder vermittelt Experten bei Entschädigungsfragen. "Derzeit befinden sich neun Personen in der Beratung", sagt Hille.

Hilfe auch für Angehörige

Alle 22 bei dem Anschlag schwer körperlich Verletzten wurden per Brief auf das Angebot aufmerksam gemacht, einmal vom Landschaftsverband Rheinland und einmal von der Ombudsfrau für die Anschlagsopfer Dr. Barbara John. Die Bundesregierung hat John als Interessenvertreterin der Opfer des NSU und der Hinterbliebenen berufen. Allerdings wohnen fünf der vor zehn Jahren schwer Verwundeten nicht im Rheinland.

Hilles Tür steht darüber hinaus direkt und indirekt Betroffenen offen. "Unser Angebot richtet sich an alle, die den Anschlag miterlebt und Schaden genommen haben, sei es körperlich, seelisch oder finanziell", sagt sie. Auch Familienangehörige von Opfern können sich an sie wenden.

Der Erstkontakt erfolge häufig über Vermittlungspersonen, die selbst schon in der Beratungsstelle waren, oder über die Ombudsfrau, die ein großes Vertrauen bei den Betroffenen genieße, sagt Hille. Die Ereignisse seien für die Betroffenen in keiner Weise abgeschlossen. "Nahezu alle leiden unter der psychischen Belastung", sagt sie.

Etliche von ihnen zeigten Symptome einer Retraumatisierung wie extreme Schlafprobleme, Panikattacken, Depressionen, psychosomatische Störungen und Schmerzen. Hille ist zwar studierte Ethnologin und keine Psychologin, aber seit langem in der Flüchtlingsarbeit tätig. Deshalb hat sie viel Erfahrung mit Menschen, die aufgrund von Gewalt traumatisiert sind.

Umschulung verweigert

Die Ratsuchenden wünschen sich von Hille zum Beispiel Unterstützung bei der Fortsetzung einer Behandlung, die von den Kostenträgern abgelehnt wurde. Einer ihrer Klienten war Handwerker.

Er wurde durch den Anschlag so schwer verletzt, dass er seinen Beruf nicht mehr ausüben kann. Die Arbeitsagentur verweigert die Bewilligung einer Umschulung. Details über Beratungsinhalte und Ergebnisse darf Hille aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht berichten.

Viele Anwohner und Besucher der Keupstraße sprechen in erster Linie türkisch oder kurdisch. Um sie zu erreichen, macht die Diakonie mit dreisprachigen Flugblättern auf die Anlaufstelle aufmerksam. Bei Verständigungsproblemen kann Hille darüber hinaus auch auf Dolmetscher zurückgreifen.

Bislang sei die Sprache aber kein Problem gewesen, sagt sie. Hilles Büro befindet sich nicht in der Keupstraße, sondern acht Kilometer entfernt in den Räumen der Diakonie in der Kölner Innenstadt.

Das hält Hille nicht für einen Nachteil. Die meisten ihrer Klienten hätten nie in dem Stadtteil gewohnt, in dem die Keupstraße liegt, sondern waren als Besucher dort. Einer sei nach der Empfehlung eines Therapeuten weggezogen, berichtet sie. "Für die Menschen, die mich bislang aufgesucht haben, wäre es seltsam gewesen, wenn das Büro in der Keupstraße wäre", sagt Hille. "Mehrere Klienten haben mir erzählt, dass sie seit dem Anschlag nie wieder dort waren."

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