Umgang mit kranken Geschwistern

"Kinder haben Gespür für Ausgrenzung"

Wie gehen Kinder mit behinderten oder kranken Geschwistern um? Psychologin Dr. Birgit Möller warnt Eltern vor Kleinreden der Situation im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung".

Von Pete Smith Veröffentlicht:

Ärzte Zeitung: Frau Dr. Möller, wie viele Kinder in Deutschland wachsen gemeinsam mit einem Bruder oder einer Schwester auf, die chronisch krank sind oder eine Behinderung haben?

Birgit Möller: Genaue Zahlen dazu gibt es nicht. Wir schätzen, dass es mindestens 1,24 Millionen Kinder sind. Die Stiftung FamilienBande geht von bis zu zwei Millionen Geschwisterkindern aus.

Dr. Birgit Möller

© Elisabeth Deiters-Keul

Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Diplom-Psychologin Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie, Universitätsklinikum Münster

Projektleitung „Kinder krebskranker Eltern“, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf / Universitätsklinikum Münster seit 2009

Projekt-Leiterin „Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsidentitätsstörung“, Uniklinik Hamburg-Eppendorf / Uniklinik Münster seit 2006

Wie wirkt sich die Erkrankung oder Behinderung eines Kindes auf deren Geschwister aus?

Möller: Das hängt von der Krankheit oder Behinderung, den individuellen und familiären Bewältigungsmöglichkeiten und den Ressourcen ab: Geht es um eine chronische oder um eine akute, lebensbedrohliche Erkrankung? Oder um eine Behinderung?

Wenn der Bruder an Asthma oder Diabetes erkrankt ist, damit gut umgehen kann und in seiner Lebensqualität wenig beeinträchtigt ist, kann das Geschwisterkind in der Regel auch gut mit dieser Situation umgehen.

Erkrankt ein Kind jedoch an akuter lymphoblastischer Leukämie, sieht die Sache völlig anders aus: Die Eltern sind plötzlich in großer Sorge und Angst, Krankenhausaufenthalte sind notwendig, die Mutter ist beim erkrankten Kind in der Klinik, und das Geschwisterkind muss zurückstecken.

Wie reagiert ein Geschwisterkind auf eine solche Ausnahmesituation?

Möller: Zunächst einmal hat es Angst. Wenn in einer Familie nicht offen über die Erkrankung gesprochen wird und die Eltern verschweigen, was auf alle zukommt (beispielsweise eine Stammzelltransplantation), kann es passieren, dass das Geschwisterkind mit seinen Gefühlen allein bleibt, von der neuen Situation überwältigt wird und gar nicht weiß, wie es damit umgehen soll.

Da es die große Belastung der Eltern spürt, nimmt es sich selbst zurück, zeigt sich von seiner stärksten Seite, passt sich an und versucht, zu funktionieren.

Das geht meist auch eine Zeit gut, kann aber auf lange Sicht dazu führen, dass das Geschwisterkind seine Traurigkeit und Gefühle gar nicht mehr zeigt und sich völlig in sich zurückzieht.

Welche Störungen können sich dadurch bei den an sich gesunden Geschwisterkindern manifestieren?

Möller: Depressionen, Ängste, Schlafstörungen, psychosomatische Beschwerden, soziale und schulische Probleme. Gerade die älteren Geschwisterkinder geraten oft in eine Versorgerrolle, nehmen sich stark zurück, während manche jüngere Kinder neben den genannten internalisierenden Problemen auch externalisierende Verhaltensweisen wie Wutausbrüche zeigen. Beides ist Ausdruck ihrer großen Not und Überforderung, Hilflosigkeit und Ohnmacht.

Sie und Ihre Kollegen haben ein Beratungskonzept entwickelt, das betroffenen Familien bei der Bewältigung ihres schwierigen Alltags helfen soll. Was sind die Grundzüge Ihres Ansatzes?

Möller: Wir haben ein präventives, zeitlich begrenztes, fokussiertes Beratungsangebot entwickelt, mit dem wir Ressourcen stärken und die Selbsthilfekräfte der Familie mobilisieren wollen. In einer ersten, diagnostischen Phase versuchen wir zunächst in getrennten Gesprächen mit den Eltern und den Kindern die spezifischen Probleme in den Familien zu identifizieren.

Im Anschluss daran erfolgt die gemeinsame Einigung mit der Familie auf bestimmte Beratungsschwerpunkte: also die Bearbeitung und Lösungssuche für die drängendsten Probleme.

Die nachfolgende Interventionsphase wird auf die individuellen Bedürfnisse der Familie abgestimmt und kann in unterschiedlichen Settings erfolgen: Dazu gehören Elterngespräche, Gespräche mit dem Kind und/oder Familiengespräche.

Wie oft und wie lange betreuen Sie betroffene Familien?

Möller: Wir bieten ihnen sechs bis zehn Sitzungen an, die zeitlichen Abstände bestimmen sie selbst. In akuten Phasen ist es sinnvoll, mehrere Termine kurz hintereinander zu legen; wenn die Familie dagegen über ausreichende Ressourcen verfügt, kann man größere Abstände wählen.

Wer finanziert die Beratung?

Möller: Bei uns läuft das über die normale Regelversorgung. An unserer Klinik haben wir eine ambulante Sprechstunde, in der wir unser Beratungskonzept anbieten.

Für viele betroffene Familien ist der Hausarzt der wichtigste Ansprechpartner.

Möller: Tatsächlich kennt der Hausarzt die Kinder und deren Familien am längsten und ist für sie eine konstante Vertrauensperson. Für uns ist er ein sehr wichtiger Ansprechpartner. Wenn er unser Beratungskonzept oder vergleichbare Angebote kennt und schätzt, wird er sie Betroffenen empfehlen. Seinem Urteil vertrauen die Patienten. Eine gute Vernetzung und ein interdisziplinärer Austausch sind fundamental.

Gibt es ausreichend Angebote für die speziellen Bedürfnisse von Geschwisterkindern?

Möller: Leider nein. Auf der Website der Stiftung FamilienBande sind die meisten Angebote aufgelistet. Und da sieht man, dass es in Ballungszentren manchmal vier, fünf Angebote gibt, aber in einigen Regionen überhaupt keine. Insgesamt ist das Angebot für Geschwisterkinder noch völlig unzureichend.

Wie ließe sich das ausbauen?

Möller: Zunächst, indem die Mediziner und Therapeuten viel stärker als bisher die Familie als Ganzes in den Fokus rücken. Auf diese Weise werden auch die gesunden Geschwisterkinder als Angehörige in die Versorgungsstrukturen einbezogen.

Die besondere Familiensituation mit einem erkrankten Kind kann die Entwicklung der Geschwisterkinder auch positiv beeinflussen. Welche ihrer Eigenschaften werden gestärkt?

Möller: Viele dieser Kinder haben außergewöhnliche Stärken und soziale Fähigkeiten. Oft sind sie unglaublich reflektiert und reif, haben ein hohes Verantwortungsbewusstsein und eine große Sozialkompetenz, Sensibilität, Einfühlungsvermögen und Toleranz, zudem sind sie offen für unterschiedliche Seinformen oder Lebensmöglichkeiten.

Sie haben, bedingt durch die Erfahrungen, die sie machen, ein großes Gespür für Ausgrenzung und gesellschaftliche Prozesse. In diesen Belangen sind sie Gleichaltrigen oft haushoch überlegen.

Lesen Sie dazu auch: Trisomie 21 aus Kindersicht: Wenn der eigene Bruder behindert ist

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