Trisomie 21 aus Kindersicht
Wenn der eigene Bruder behindert ist
Wie ist es für ein Kind, ein Geschwister mit Down-Syndrom zu haben? Ein Einblick in den Alltag von Katharina (13): Sie sieht die Trisomie 21 ihres Bruders als Belastung - und als Vorteil.
Veröffentlicht:ESSEN. Katharina liebt ihren Bruder, keine Frage. "Natürlich zanken wir uns auch, aber meistens kommen wir gut miteinander klar", sagt die 13-jährige Schülerin aus Essen.
Allerdings ist ihr Alex mitunter auch peinlich. Wenn ihre Freundinnen zu Besuch sind und er sie einfach nicht in Ruhe lässt. Oder wenn er in deren Beisein pupst.
"Oft benimmt er sich wie ein Kind". Zwar ist Alexander drei Jahre älter als Katharina, aber gefühlt ist sie die Ältere. Und die Vernünftigere. Alex ist eben anders. Alexander hat das Down-Syndrom.
"Manchmal frage ich mich, was wohl wäre, wenn ich einen Bruder ohne Down-Syndrom hätte", sagt Katharina. Und? Wäre das besser? "Hm. Wenn ich so überlege, dann würde ich mich mit einem anderen Bruder wahrscheinlich auch zanken. Sogar noch mehr. Vielleicht würden wir uns auch weniger gut verstehen."
Manchmal, so überlegt sie weiter, hat sie durch Alex sogar Vorteile. "Als ich zum Beispiel nach der Grundschule aufs Gymnasium wollte und meine Zensuren nicht so gut waren." Da habe ihr die Grundschullehrerin gesagt, dass sie wegen ihres Bruders vielleicht nicht immer genug Zeit zu lernen hatte. Und ihr trotz ihrer nicht so guten Noten eine Empfehlung fürs Gymnasium gegeben.
"Manchmal ist Alexander für Katharina auch ein Türöffner", ergänzt Vater Hans-Dieter Posthoff. "Im Freizeitpark beispielsweise wird er schon mal vorgelassen, dann huscht Katharina mit hinein."
Down-Syndrom als Belastung für den Alltag
Abgesehen davon ist das Leben mit einem Bruder wie Alex jedoch nicht immer einfach. Das wissen auch ihre Eltern. "Zum Ende der Grundschulzeit gab es öfter Hänseleien wie, 'Du hast aber einen doofen Bruder‘", erzählt Hans-Dieter Posthoff, Mitarbeiter in der EDV-Abteilung eines Sanitär-Großhandels.
Und Petra Posthoff, als Ärztin im Medizinischen Dienst einer Krankenkasse tätig, ergänzt: "Katharina war auf der Grundschule die einzige Schülerin, die einen Bruder mit einer Beeinträchtigung hatte.
Das war schon schwer für sie. Als sie jünger war, hat sie oft gefragt, warum ich? Da hat sie sich häufig benachteiligt gefühlt, auch wenn wir uns bemüht haben, jedem Kind die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken."
Wenn man jedoch ein Kind mit Down-Syndrom hat, ist das unmöglich. "Natürlich hat Alexander mehr Aufmerksamkeit gebraucht als Katharina", sagt Petra Posthoff. Da musste die Jüngere dann oft zurückstecken.
Zum Beispiel im Urlaub. "Wegen Alex konnten wir ganz viele Sachen nicht machen", erzählt Katharina. "Zum Beispiel in einen Wasserpark gehen oder klettern, weil er das nicht schafft oder nicht darf."
Mit zunehmendem Alter habe sich die Situation für seine Tochter sogar noch verschlechtert, glaubt Hans-Dieter Posthoff. "Ich habe den Eindruck, dass Katharina für die Verwandten immer durchsichtiger wird. Früher war sie für alle das niedliche Kind, jetzt ist sie ein Teenie.
Den Alex nehmen meine Brüder mit ins Fußballstadion, oder er bekommt von Freunden und Nachbarn Geschenke. Katharina dagegen wird oft übersehen. Hier versuchen wir schon gegenzusteuern."
"Exklusivrechte" an den Eltern als Ausgleich
Gegenzusteuern heißt, Katharina an manchen Tagen die Exklusivrechte an Mutter oder Vater zu verleihen. "Zum Beispiel fahren Mama und ich ab und zu alleine in den Urlaub", bestätigt die 13-Jährige. Solche Auszeiten muss sich die Familie hart erarbeiten. Die Eltern sind berufstätig, beide in Vollzeit.
Katharina, derzeit in der achten Klasse, ist G8-Schülerin, wird ihr Abitur voraussichtlich also schon nach zwölf Jahren absolvieren. "Das ist ein Mordsstress", sagt ihr Vater, "mit vielen Sonderaufgaben nach der Schule, Referaten und Projekten."
Alexander geht in eine Schule des Essener Franz-Sales-Hauses, die einem riesigen Komplex mit Behindertenwerkstätten, Bauernhof und Hotel angeschlossen ist.
"Um ihn zweimal die Woche vom Fußballtraining abzuholen, müssen wir jeweils 25 Minuten hin- und 25 Minuten wieder zurückfahren", erzählt sein Vater. "Freitags geht er mit Katharina zum Schwimmen und zum Kung Fu. Da ist er gut integriert.
Katharina setzt sich inzwischen allein in den Bus, aber Alexander muss immer begleitet werden, er ist einfach unberechenbar. Ich sag es mal so: Wenn andere Familien einen Marathon laufen, dann müssen wir zwei bewältigen."
Was der 47-Jährige am meisten fürchtet: dass Alexander zum Einzelgänger wird. "Jungen in seinem Alter gehen ihre eigenen Wege, haben Freundinnen und machen Dinge, die Alex nicht kann, zum Beispiel Moped fahren. Wir versuchen da gegenzusteuern, beispielsweise indem wir ihn in spezielle Sporteinrichtungen schicken."
Auch um Katharinas Wohl sorgen sich die Eltern. Als Mitglieder der Initiative Down-Syndrom in Unna haben sie ihre Tochter schon mal zu einem speziellen Seminar für Geschwisterkinder geschickt.
Hier können Kinder, deren Schwester oder Bruder eine Behinderung hat, zum Beispiel erzählen, was sie ärgert und was sie sich von ihren Eltern wünschen.
Mutter: Katharinas Sozialkompetenz "sehr ausgereift"
Katharina etwa ärgert sich darüber, dass Alexander vom Essen aufstehen darf, während sie selbst sitzen bleiben muss, bis sie ihren Teller leer gegessen hat.
Ihr Vater räumt in diesem Zusammenhang eigene Fehler ein. "Wieso erwarte ich von meiner gesunden Tochter mehr als von meinem Sohn mit Down-Syndrom? Den Müll könnte er doch ebenso runterbringen."
Wenn er selbst etwas gelernt habe, sagt der 47-Jährige, dann das: "Wir müssen unserem gesunden Kind das Gefühl geben: Hallo, ich seh‘ dich, und beim nächsten Mal hast du mich nur für dich."
Das Leben als Schwester eines Jungen mit Down-Syndrom hat Katharina schon in jungen Jahren geprägt. "Tatsächlich ist ihre Sozialkompetenz sehr ausgereift", sagt ihre Mutter. "Vor allem ihren Mitschülern gegenüber verhält sie sich sehr empathisch."
Auch Katharina glaubt, dass ihre eigene Entwicklung durch den täglichen Umgang mit Alexander positiv beeinflusst worden ist. "Auf jeden Fall kann ich mich besser auf andere Leute einlassen", sagt sie. "Und gut mit Kindern umgehen."
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