Heilende Hände

Vom Zauber der Berührung

Das Stiefkind der Sinnesforschung: Obwohl der Tastsinn unser wichtigster Sinn ist, erforschen ihn nur wenige Forscher. Ein Einblick, wie Ärzte beispielsweise mit dem Taucheranzug Anorexie angehen.

Von Susanne Werner Veröffentlicht:
In dem mit Ton gefüllten Holzrahmen können Kinder Entwicklungsschritte nachholen.

In dem mit Ton gefüllten Holzrahmen können Kinder Entwicklungsschritte nachholen.

© Ina Schott

Sie ist nur wenige Millimeter dick und kommt in der Fläche auf nahezu zwei Quadratmeter, die Haut. Sie gilt als der „Spiegel unserer Seele“, bietet uns Schutz und ist ein Teil unseres wichtigsten Sinnes. Ohne Hautkontakt und Berührung könnten wir nicht überleben. Während sich der Sehsinn erst nach der Geburt entwickelt, kommen wir mit einem komplett ausgebildeten Tastsinn auf die Welt. Schon im Uterus hat sich der Embryo selbst abgetastet, seinen Körper in der Geborgenheit des Fruchtwassers erkundet und am Daumen gesaugt, ohne diese Bewegung zuvor gesehen zu haben.

Dass wir ohne Berührung nicht überleben können, lässt sich vorschnell als Binsenweisheit einstufen. Seit die schrecklichen Bilder von den rumänischen Waisenkindern um die Welt gingen, die völlig verwahrlost und isoliert in den Heimen lebten, glauben wir, Bescheid zu wissen. Dennoch ist das Interesse, die wohltuende Berührung auch für Gesundheit und Heilung zu nutzen, erstaunlich gering. Der Tastsinn gilt als „Stiefkind der Sinnesforschung“. Weltweit arbeiten nur etwa hundert Wissenschaftler daran.

Neopren-Anzug für Magersüchtige

Eine der wenigen Pioniere ist Martin Grunwald. In seinem Leipziger Labor sucht er nach Wegen, wie sich taktile und haptische Wahrnehmungen zu Heilungszwecken einsetzen lassen. Während das Taktile einen Reiz von außen – etwa eine Massage – voraussetzt, steht die Haptik für den Selbstbezug der Berührung, also jedes aktive Handeln, Greifen und Gestalten. Schon vor dem ersten Lebensschrei arbeiten Hand und Kopf beständig zusammen. Jedes Greifen hinterlässt Spuren im Hirn.

Schon der Fötus hat durch seine Bewegungen und das Ertasten seiner Umwelt ein neuronales Konzept seiner Körperlichkeit entwickelt. „Das ausgebildete Körperschema ermöglicht uns, dass wir selbst mit geschlossenen Augen um die Ausmaße unseres Körpers wissen, was an ihm oben, unten, hinten oder vorne ist“, sagt Grunwald

Der Psychologe hat herausgefunden, dass zappelige Kinder durch übergestreifte Sandwesten zu beruhigen sind. Sie erleben den Druck wie eine dauerhafte Umarmung, finden dadurch zur Ruhe und entspannen sich. Für Frauen, die an Magersucht leiden, hat Grunwald enganliegende Neopren-Anzüge herstellen lassen. Sie lernen dadurch, ihren eigenen Körper in seinen tatsächlichen Ausmaßen wahrzunehmen und ihr verinnerlichtes falsches Körperschema von einem übergewichtigen Körper zu korrigieren.

Wieder atmen dank Berührung

Gemeinsam mit der Neonatologie am Uniklinikum Leipzig (UKL) forscht Grunwald aktuell daran, wie die natürlichen Atemaussetzer von Frühgeborenen zu verhindern oder – wenn sie doch auftreten – am schnellsten zu beenden sind. Bislang braucht es dazu die menschliche Berührung – ein höchst personalaufwendiges Vorgehen für eine hochsterile Klinikstation. Sobald ein Überwachungsgerät Alarm schlägt, muss eine Pflegekraft ihre Arbeit unterbrechen, ihre Hände desinfizieren und das Frühchen gezielt berühren, damit die Atmung wieder einsetzt.

„Das sorgt für großen Stress unter den Krankenpflegekräften, die blitzschnell reagieren und zugleich auf die Hygiene achten müssen“, sagt Professor Ulrich Thome, Leiter der Abteilung für Neonatologie am UKL. Grunwalds Haptik-Labor testet nun eine Methode, die bei Apnoe-Phasen automatisch die Fußsohle stimuliert und dadurch die Atmung anregt. „Wir wissen bereits, dass die Atmung durch das Berühren der Fußsohlen oder des Rückens wieder ausgelöst wird“, sagt Thome. Im nächsten Schritt gehe es darum, den nötigen Druck einer menschlichen Berührung – zum Beispiel den einer erfahrenen Kinderkrankenpflegerin – zu messen und die Manschette entsprechend auszustatten.

Haptische Sinneswahrnehmungen gehören zu unserem Alltag, ohne dass uns das bewusst ist. Forscher haben beispielsweise gezählt, dass wir uns täglich bis zu 800 Mal im Gesicht berühren: Wir streichen mit der Hand unsere Wangen, fassen an die Nase, reiben das Kinn, fahren über die Stirn, bedecken den Mund. Die Berührungen des Gesichts sind spontane Handlungen, die keine Auslöser wie Jucken oder Kribbeln brauchen.

Die Zahl der Selbstberührungen steigt sprunghaft an, wenn wir Stress erleben, Prüfungen bestehen müssen oder Konflikte mit anderen ausagieren. „Die Selbstberührungen dienen dazu, unser psychisches Aktivierungsniveau nach Irritationen wieder in Balance zu bringen“, schreibt Martin Grunwald in seinem aktuellen Buch „Homo Hapticus“.

Haptischen Sinn für die Therapie

Bei der Haptik geht es um viel mehr als nur um Haut. „Der haptische Sinn umfasst den Hautsinn, die Tiefensensibilität und das Gleichgewicht und ist der grundlegende Beziehungssinn zur Welt und zu uns selbst,“ sagt Heinz Deuser, ehemals Professor für Kunsttherapie in Nürtingen. Deuser forscht seit den 1970er-Jahren, wie der haptische Sinn in therapeutischen und pädagogischen Rahmen eingesetzt werden kann und entwickelte daraus die Arbeit am Tonfeld. Ein einfacher, mit Ton gefüllter Holzrahmen steht dabei im Mittelpunkt der Arbeit. Klienten sind eingeladen den Ton zu bearbeiten, darin einzutauchen, zu kneten, zu formen – zaghaft oder energisch, angespannt oder kraftvoll. Die Art und Weise, wie sie das machen, verweist auf deren Verbundenheit mit sich selbst und der Welt.

Tonfeld-Begleiter, die über drei Jahre hinweg ausgebildet werden, unterstützen das Geschehen, ermutigen die Kinder, Jugendlichen oder auch Erwachsenen dazu, ihren eigenen Ausdruck mit dem Ton zu finden. Das Gestalten des Materials ermöglicht, neue Erfahrungen im Zugang zur Welt zu machen, verhinderte Entwicklungsschritte nachzuholen, Verhaltensauffälligkeiten auszubalancieren. „Dieser haptische Dialog ist eine sensomotorische Sprache, in der wir uns und unsere Welt aufnehmen und einholen. Die Methode greift das menschliche Bestreben auf, sich in diese Welt einzuordnen und seinen Platz zu finden und aufzubauen“, sagt Deuser. Bislang wird die Arbeit am Tonfeld meist in Kitas, Schulen und psychiatrischen Einrichtungen eingesetzt.

Berührung statt Kommunikation

Für den Leipziger Haptik-Forscher Grunwald steht es außer Frage, dass das Wissen um haptische und taktile Wahrnehmungen in Zukunft deutlich intensiver genutzt werden sollten. In seinem Buch listet er am Ende eine ganze Reihe von lohnenswerten Forschungsvorhaben auf: Demnach könnten Schreibabys von körperorientierten Behandlungen ebenso profitieren wie Menschen mit chronischen Erkrankungen, mit Magersucht, mit Übergewicht oder psychischen Beschwerden.

Insbesondere bei der Behandlung von Depression dominiere, so Grunwald, der verhaltenstherapeutische Ansatz – zum Nachsehen der Patienten: „Man setzt darauf, mit Worten alles erreichen zu können und übersieht, wie wichtig ein Zugang zum eigenen Körper für die menschliche Entwicklung ist.“

Literatur

  • Martin Grunwald: Homo Hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. Droemer Verlag, München 2017
  • Heinz Deuser: Arbeit am Tonfeld. Der haptische Weg zu uns selbst. Psychosozial-Verlag Gießen 2018
  • Elisabeth von Thadden: Die berührungslose Gesellschaft. C.H.Beck Verlag München 2018
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