Fukushima
Streitpunkt Schilddrüsenkrebs
Die Reihenuntersuchungen an Kindern und Jugendlichen in der Präfektur Fukushima sorgen für heftige Debatten unter Ärzten: Ist die Atomkatastrophe von Fukushima vor exakt drei Jahren Schuld an den gehäuften Schilddrüsenkrebs-Fällen?
Veröffentlicht:ARNOLDSHAIN/FUKUSHIMA. Bedeuten 74 in den vergangenen drei Jahren via Ultraschall nachgewiesene Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern unter 18 Jahren in Japans Präfektur Fukushima einen Ausbruch der onkologischen Erkrankung im Zuge der Havarie des Atomreaktors Fukushima Daiichi am 11. März 2011?
Diese Frage beschäftigt Ärzte rund um die Welt. Vergangene Woche trafen sich knapp 100 Experten aus Japan, Weißrussland, den USA und Deutschland auf Einladung des Zentrums Ökumene der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau sowie der deutschen Sektion der atomkritischen Ärztevereinigung IPPNW (Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges und in sozialer Verantwortung) in Arnoldshain nahe des Feldbergs, um sich dem Disput zu stellen.
Wie der Pädiater Dr. Isamu Takamatsu von der Medical Problems Studying Association (Iryo Mondai Kenkyukai) berichtete, sind im Rahmen der von der Präfektur Fukushima nach der Atomhavarie angeordneten Reihenuntersuchungen der Schilddrüse bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren in der Präfektur insgesamt 74 Fälle von Schilddrüsenkrebs identifiziert worden, die operativ behandelt worden seien.
Wie Takamatsu hinwies, sind 2011 47.766 Betroffene, 2012 insgesamt 163.264 und im vergangenen Jahr 122.373 gescreent worden. Mit insgesamt 333.403 Kindern und Jugendlichen liegt die Zahl der Untersuchten damit klar unter dem Ziel der Präfektur, die rund 360.000 Schilddrüsenuntersuchungen vornehmen lassen wollte. Außerdem scheint das Ziel verfehlt zu sein, die Zielgruppe regelmäßig alle zwei Jahre zu untersuchen.
Kritik an Untersuchungsquote
Für den Radiologen und Pneumologen Dr. Eisuke Matsui vom Gifu Research Institute for Environmental Medicine in Westjapan sind die Reihenuntersuchungen mit Makeln behaftet. "Eine Teilnahmequote von 80 Prozent ist zu wenig für ein Massenscreening. Um aussagekräftig zu sein, müssen mindestens 90 Prozent erreicht werden", appellierte Matsui.
Er sehe hier ganz klar die Präfekturregierung von Fukushima in der Pflicht, zusätzlich die Untersuchungsintervalle auf sechs Monate zu verkürzen.
Außerdem regte er an, eine Vergleichsstudie aufzusetzen zwischen Kindern in Städten, die in der Woche unmittelbar nach der Atomhavarie von Fukushima Daiichi Jodtabletten zur Schilddrüsenkarzinomprophylaxe erhalten hatten und solchen aus Städten, deren Bürgermeister sich damals gegen diese Schutzmaßnahme entschieden hatten.
Kritik an den Reihenuntersuchungen übt auch die inzwischen selbst im Ausland bekannte japanische Fernsehkomödiantin Mako Oshidori.
Üben Ärzte Druck auf Eltern aus?
Seit der Natur- und Atomkatastrophe in der nordostjapanischen Region Tohoku arbeitet sie als freie Journalistin und zählt zu den größten Anti-Atom-Aktivisten ihres Landes.
Sie wagt es - für japanische Verhältnisse ungewöhnlich -, auf den Hauptversammlungen des AKW-Betreibers Tokyo Electric Power Company (TEPCo) kritische Fragen zu stellen.
Wie sie am Rande der Tagung im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" betonte, hätten ihr viele Eltern, deren Kinder sich bereits einer von der Präfektur Fukushima finanzierten Reihenuntersuchung unterzogen hätten, von Gängelungen seitens der behandelnden Ärzte berichtet: "Wenn Eltern zum Beispiel eine zweite Untersuchung nach sechs Monaten wünschen, da sie Veränderungen an der Schilddrüse wie eine Knotenbildung wahrgenommen haben, weisen sie die Ärzte in den Kliniken oft barsch ab. Viele gehen dann nach Tokio und lassen ihre Kinder dort auf eigene Kosten untersuchen."
Zudem berichtete Oshidori, die inzwischen nach eigener Aussage von Japans Geheimdienst überwacht wird, von Unregelmäßigkeiten bei der Datenerfassung im Zuge der Reihenuntersuchungen. Der Gouverneur von Fukushima erkläre dies auf Oshidoris Nachfrage mit "Softwareproblemen". (maw)
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