Die Arbeit der Todgeweihten

Das Prinzip hieß: Rettungs- und Aufräumungsarbeiten am Unglücks-Reaktor auf möglichst viele Menschen verteilen. Bis zu 800.000 Liquidatoren arbeiteten in Tschernobyl, viele ließen ihr Leben, alle sind krank.

Von Heidi Niemann Veröffentlicht:
Spezialeinheiten messen auf einem Feld innerhalb der Sicherheitszone von Tschernobyl in der Ukraine die Radioaktivität im Mai 1986.

Spezialeinheiten messen auf einem Feld innerhalb der Sicherheitszone von Tschernobyl in der Ukraine die Radioaktivität im Mai 1986.

© dpa

Am 26. April 1986 erhält das Regiment von Igor Jurewitsch Pismenskij den Befehl, sich zu einem Militärflughafen in der Nähe von Tschernobyl zu begeben. Der Oberst der Sowjetarmee ist einer der ersten, die dabei helfen sollen, die Folgen des Reaktorunfalls einzudämmen.

29 Mal fliegt er mit dem Hubschrauber in 200 Meter Höhe über den explodierten Reaktor hinweg, um Sand, Blei und Dolomit abzuwerfen. Bei jedem Flug ist er einer überhöhten radioaktivern Strahlung ausgesetzt.

Gemeinsam mit der ukrainischen Medizinerin Professor Angelina Nyagu berichtete er jetzt bei einer Veranstaltung in der evangelischen Kirchengemeinde in Greene (Kreis Northeim) über die Spätfolgen der Reaktorkatastrophe.

Angelina Nyagu, Präsidentin des internationalen Vereins "Ärzte von Tschernobyl", war 1986 am Zentrum für radiologische Medizin in Kiew tätig. Nach dem Unglück habe es viele Patienten mit Strahlenerkrankungen gegeben, sagte Nyagu.

Die Mediziner hätten jedoch die Anweisung bekommen, die Verstrahlung nicht in den Krankenakten zu erwähnen. Das ganze Ausmaß der radioaktiven Verseuchung sei jahrelang verheimlicht worden, sagte die Ärztin. Insgesamt hätten über neun Millionen Menschen überhöhte Strahlendosen abbekommen.

"Der Staat übernimmt keine Verantwortung"

Die Medizinerin kennt die gravierenden gesundheitlichen Folgen aus eigener Anschauung. Sie leitete die nationalen Programme zur Minimierung der Tschernobyl-Folgen in der Ukraine und der UdSSR und war an internationalen Studien zu den gesundheitlichen Folgen des Unglücks beteiligt. Besonders stark betroffen seien die insgesamt 800.000 Liquidatoren, darunter 600.000 Armeeangehörige: "Sie sind alle krank."

Auch Ex-Oberst Pismenskij leidet unter den gesundheitlichen Folgen der Verstrahlung. Er ist heute Vorsitzender einer Vereinigung, die sich um die Interessen der Liquidatoren kümmert. "Wir haben eine weitere Ausbreitung der Radioaktivität und eine noch schlimmere Katastrophe verhindert", sagt er.

Doch die Liquidatoren, die damals ihr Leben und ihre Gesundheit riskiert haben, bekommen dafür kaum behördliche Unterstützung. "Der Staat übernimmt keine Verantwortung für sie", kritisierte Angelina Nyagu. Dabei könne ihr Einsatz gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: "Sie haben praktisch Europa gerettet."

Belastung auch für künftige Generationen

Der GAU von Tschernobyl hat wirtschaftliche, soziale und gesundheitliche Langzeitschäden hervorgerufen, deren Ausmaß sich auch 25 Jahre nach der Katastrophe noch nicht abschätzen lässt. Bei den Erwachsenen habe es einen signifikanten Anstieg der Krebserkrankungen gegeben, sagte Nyagu.

Auch hier seien die Liquidatoren besonders stark betroffen. Viele der Kinder, die damals schutzlos der Strahlung ausgesetzt gewesen waren, seien an Leukämie erkrankt.

Außerdem seien sehr viel mehr Fehlgeburten aufgetreten. "Große Sorgen bereitet uns auch die Zunahme an Genomstörungen und Missbildungen", sagte die Medizinerin. Die Katastrophe wirke sich auch auf die nachfolgenden Generationen aus, die schweren gesundheitlichen Folgen würden weiter vererbt.

Heftige Kritik übte die Expertin an der Internationalen Atomenergie-Behörde, weil diese nicht nur im Falle von Tschernobyl, sondern auch bei der jetzigen Katastrophe in Fukushima die Auswirkungen verharmlose.

Doch auch das Verhalten der UNO-Weltgesundheitsorganisation sei skandalös: "Die WHO hat noch überhaupt nicht auf Fukushima reagiert - das ist eine Schande!"

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