Misshandelte Kinder

Hilflose Ärzte

Gewalt gegen Kinder ist keine Seltenheiten. Eine neue Studie enthült das wahre Ausmaß. Das Problem: Wenn Ärzte helfen wollen, stehen sie vor großen Hürden. Auch das neue Kinderschutzgesetz hat daran nur wenig geändert.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
Pädiater fordern, das Kinderschutzgesetz an die Bedingungen in der Praxis anzupassen.

Pädiater fordern, das Kinderschutzgesetz an die Bedingungen in der Praxis anzupassen.

© ARCO IMAGES / imago

BERLIN. Gewalt, Missachtung, Mobbing. Die sprichwörtliche schwere Jugend erlebt fast jeder vierte Heranwachsende in Deutschland. Das Risiko, von Erwachsenen körperlich oder seelisch misshandelt zu werden, ist vor allem für Kinder aus armen Verhältnissen hoch.

Zu diesem Ergebnis kommt die Gewaltstudie 2013, der Universität Bielefeld im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung von Bayer HealthCare.

Hausärzte- und Kinderärzte sind oft die ersten, die die Spuren von Gewalt in der Erziehung auf den Körpern von Kindern entdecken. Nach wie vor gilt die Interpretation solcher Male als schwierig.

Leitfäden der Landesärztekammern geben Tipps, wie Ärzte in solchen Fällen vorgehen sollten. Mit der Novelle des Kinderschutzgesetzes gibt es seit Anfang 2012 eine leichte Lockerung der ärztlichen Schweigepflicht.

Doch trotz der Lockerung der ärztlichen Schweigepflicht: Der Spielraum für Ärzte bei dem Verdacht auf Kindesmissbrauch zu handeln, ist nach wie vor zu eng.

Der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte (bvkj) kritisiert das novellierte Kinderschutzgesetz weiter scharf. "In der nächsten Legislaturperiode muss hier noch einmal nachgebessert und das Gesetz an die Bedingungen in der Praxis angepasst werden", fordert bvkj-Präsident Dr. Wolfram Hartmann.

Erstmals hatten die Bielefelder Forscher 900 Kinder ab sechs Jahren und Jugendliche bis einschließlich 16 Jahren befragt. Die Ergebnisse sind niederschmetternd.

"Vor allem Kinder aus prekären Lebenslagen werden häufiger und offenbar auch in höherer Intensität geschlagen als Kinder, deren sozialer Status durchschnittlich oder privilegiert ist", bestätigte Studienleiter Professor Holger Ziegler.

Erzieher und Lehrer ansprechen dürfen

Ein Drittel der sozial benachteiligten Kinder gab an, oft oder manchmal von Erwachsenen geschlagen worden zu sein.

Nicht selten seien blaue Flecken die Folge gewesen. Unter den Kindern vom anderen Ende der gesellschaftlichen Skala fanden sich nicht einmal zwei von Hundert, die von Schlägen berichteten.

Die Gewalterfahrungen von Jugendlichen sind weniger eindeutig abhängig vom sozioökonomischen Status. 22 Prozent der aus armen Verhältnissen stammenden und 18 Prozent der besser gestellten Jugendlichen berichteten, geschlagen worden zu sein.

Wenn Ärzte bei einem Missbrauchsverdacht helfen wollen, soll ihnen seit dem geänderten Kinderschutzgesetz die gelockerte Schweigepflicht helfen. Sie können nun bei einem Verdacht das Jugendamt einzuschalten.

Doch das sei oft eine zu hohe Hürde, moniert Kinderarzt Hartmann. Ärzte müssten auch mit Erziehern und Lehrern sprechen können, das sei jedoch weiterhinnur mit der Zustimmung beider Eltern möglich.

Die Aufklärung einer Kindesmisshandlung erfordere viel Feingefühl. Ärzte hätten nur wenig Zeit, um mit dem Kind alleine zu sprechen. Erzieher und Lehrer hingegen verbrächten mehr Zeit mit den Kindern. Ein Austausch zwischen den Berufsgruppen sei sinnvoll, so Hartmann.

Besonderes Augenmerk richteten die Forscher aus Bielefeld auf die Folgen verbaler Attacken auf Kinder und Jugendliche. Ein Viertel aller Befragten kennt die Erfahrung, als "dumm" oder "faul" beschimpft zu werden.

Zudem fühlt sich jeder fünfte von den Erwachsenen im Wert zurückgesetzt. Auch hier trifft es vor allem arme Kinder.

In der Gruppe der Jugendlichen ziehen sich die Erfahrungen, beleidigt und geringgeschätzt zu werden durch alle gesellschaftliche Schichten. Missachtungen sind ausweislich der Bielefelder Studienergebnisse auch Alltag in den Klassenzimmern.

Gewalt säht Gewalt

Fast die Hälfte der sozial benachteiligten Kinder berichtete davon, von Lehrern schlechter als andere Schüler behandelt zu werden.

Das soziale Gefälle wirkt sich auch beim Mobbing aus. Gut 70 Prozent der befragten armen, aber nur 60 Prozent der reichen Kinder gab an, zumindest manchmal von Gleichaltrigen gehänselt zu werden.

Gewalt sät Gewalt. Kinder kämen nicht gewalttätig auf die Welt, sagt "Super-Nanny" Katharina Saalfrank, die Schirmherrin der Bepanthen-Kinderförderung.

"Wenn Kinder in ihren ersten Beziehungen - also durch Eltern oder Familie - Gewalt oder Missachtung erleben, integrieren sie diese Erfahrungen in sich und entwickeln ein nur geringes Selbstwertgefühl. Dieses kompensieren sie dann mit Gewalt und übernehmen so die gelernten Muster", sagt Familienberaterin Saalfrank.

Anfang 2012 war das neue Kinderschutzgesetz in Kraft getreten. Kinder aus Problemfamilien sollen besser vor Vernachlässigung und Missbrauch geschützt werden – unter anderem durch sozialpädagogisch geschulte Familienhebammen.

Aus Sicht von Barbara Lubisch von der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung ist das jedoch nicht ausreichend. Probleme entstünden häufig, wenn die Kinder schon etwas älter seien, dann würden die Familien jedoch allein gelassen.

Aus Scham suchten Eltern häufig nicht von sich aus Hilfe. Lubisch: "Wir brauchen niedrigschwellige Angebote für die Betroffenen."

Die polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet für das vergangene Jahr 3450 Fälle von Kindesmisshandlung. Im Jahr davor waren es noch 3583 Fälle. Experten gehen jedoch von einer sehr hohen Dunkelziffer aus, einige sprechen von bis zu 500 000 Fällen von Gewalt und Missbrauch gegen Kinder.

Schlagworte:
Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Frühe Hilfen

Babylotsen: Im Nordosten langfristig gesichert

Finanzielle Lage der GKV

Zusatzbeiträge 2025: Hiobsbotschaften im Tagesrhythmus

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Finanzielle Lage der GKV

Zusatzbeiträge 2025: Hiobsbotschaften im Tagesrhythmus

Lesetipps
Die Forschenden nahmen die langfristigen Auswirkungen der essenziellen Metalle Kobalt, Kupfer, Mangan und Zink, sowie der nicht-essenziellen Metalle Arsen, Cadmium, Blei, Wolfram und Uran auf die kognitiven Funktionen in den Blick.

© Naeblys / Getty Images / iStock

Umweltbelastung

Metalle im Urin sind mit kognitivem Abbau assoziiert