Orphan Drugs
Die Innovationsrate bleibt hoch
Die Zulassung neuer Orphan Drugs hat sich in den vergangenen Jahren auf hohem Niveau stabilisiert. Allein in den vergangenen beiden Jahren wurden jeweils 14 neue Arzneien zugelassen
Veröffentlicht:Berlin. Mit fast zwei Jahrzehnten Verzögerung im Vergleich zu den USA kann nun auch in Europa von einem Erfolg im Kampf gegen seltene Krankheiten gesprochen werden. Schon 1983 verabschiedeten die USA ein Gesetz, mit dem die Entwicklung von Orphan Drugs gezielt gefördert wurden, die EU zog erst im Jahr 2000 nach.
Bis zu diesem Zeitpunkt waren erst fünf spezielle Arzneimittel gegen seltene Krankheiten in den Markt gebracht worden, seit dem Jahr 2000 hat sich die Zahl der Neueinführungen sprunghaft erhöht und scheint nun mit 14 bis 15 Innovationen pro Jahr ein stabiles Plateau erreicht zu haben. Insgesamt sind in Europa 137 Orphan Drugs zugelassen worden, die ihren Herstellern eine exklusive Vermarktung für einen Zeitraum von bis zu Jahren ermöglichten.
1500 laufende Forschungsprojekte
Auch in Zukunft ist mit einer relativ hohen Innovationsrate zu rechnen. Nach Angaben des Verbandes forschender Pharmaunternehmen (vfa) haben derzeit mehr als 1500 Arzneimittel, die sich noch in der Entwicklung befinden, den Orphan-Drug-Status von der EU erhalten. Diese Arzneimittel sind noch nicht zugelassen. Rund 13 Prozent davon – also mehr als 200 – befinden sich in einer fortgeschrittenen klinischen Entwicklungsphase, sie könnten also mittelfristig, für die Therapie seltener Krankheiten zur Verfügung stehen.
44 Prozent der zugelassenen Orphan Drugs werden in der Krebstherapie eingesetzt. Der Trend zur stratifizierten Behandlung mit immer gezielteren Differenzierungen begünstigt diesen Trend. Mit 21 Prozent stehen Stoffwechselerkrankungen an zweiter Stelle. Sieben Prozent der Präparate werden in neurologischen Indikationen eingesetzt.
Orphan Drugs 2016
Albutrepenonacog: Hämophilie B, kongenital, 5000 Patienten in der EU
Alglucosidase alfa: Morbus Pompe, 6850 Patienten
Allogene T-Zellen: Begleittherapie bei idiopathischer hämatopoetischer Stammzelltransplantation, 16.000 Patienten
Autologe Zellfraktion: ADA-SCID (schwerer kombinierter Immundefekt), 2000 Patienten
Daratumumab: Muliples Myelom, 205.000 Patienten
Edotreotid: Diagnose von gastroenteropankreatischen neuroendokrinen Tumoren, 180.000 Patienten
Eftrenonacog alpha: Hämophilie B, 10.000 Patienten
Humaner Gerinnungsfaktor X: Faktor-X-Mangel, 51.000 Patienten
Irinotecan: Pankreaskarzinom, 82.000 Patienten
Ixazomib: Multiples Myelom, 205.000 Patienten
Lenalidomid: Mantelzell-Lymphom, 31.000 Patienten
Migalastad: Morbus Fabry, 118.000 Patienten
Obeticholsäure: Primäre biliäre Cholangitis, 182.000 Patienten,
Olaratumab: Weichteilsarkom, 154.000 Patienten
Pitolisant: Narkolepsie mit oder ohne Kataplexie, 205.000 Patienten
Venetoclax: chronisch lymphatische Leukämie, 250.000 Patienten
Voraussetzungen für die Anerkennung als Orphan Drug, die in einem sehr frühen Stadium der Entwicklung beantragt werden müssen sind:
Es muss sich um eine schwerwiegende Erkrankung handeln, an der nicht mehr als einer von 2000 EU-Bürgern leidet. Welche Krankheiten dies sind, entscheidet die EU-Arzneimittelbehörde EMA. Die Zerlegung einer häufigeren Krankheit in Unterformen, ist nicht gestattet. Im Regelfall muss es sich um eine bislang nicht behandelbare Krankheit handeln.
Ist der Orphan Drug-Status anerkannt, erhält das Unternehmen nach der Einführung des Präparats neben dem Patentschutz eine zehnjährige Marktexklusivität. Das heißt: Arzneimittel von Wettbewerbern erhalten nur dann eine Zulassung, wenn die Überlegenheit dieses Arzneimittels nachgewiesen wird oder wenn mit diesem Arzneimittel ein Versorgungsengpass überwunden werden kann.
Am Ende des fünften Jahres nach der Zulassung wird auf Antrag eines EU-Mitgliedsstaates überprüft, ob die Voraussetzungen für den Orphan Drug-Status noch gegeben sind. Der Status geht verloren, wenn die Krankheit häufiger als eins zu 2000 oder ein Wettbewerber ein Arzneimittel entwickelt hat, dass sicherer oder therapeutisch überlegen ist. Die Erfahrungen aus den letzten 15 Jahren zeigt, dass dies nicht selten ist.
Für das Zulassungsprozedere werden die Gebühren reduziert und kleinen oder mittleren Unternehmen vollständig erlassen.
Bislang führt der Orphan Drug-Status nicht automatisch zu einem beschleunigten Zulassungsverfahren. Hier gibt es jedoch seit ein bis zwei Jahren bei der EMA erhebliche Bewegung, die kontrovers diskutiert wird: Mit den Initiativen zu "Adaptive Pathways" und "Priority Medicines" (PRIME) wollen die Arzneimittelbehörden in der EU neue Arzneimittel für bislang unzureichend behandelbare Krankheiten (hoher medizinischer Bedarf) beschleunigen. Eine Möglichkeit dabei ist auch eine bedingte Zulassung, mit der dem Hersteller die Nachreichung weiterer Daten aus klinischen Studien nach der Zulassung ermöglicht wird.
Diese Entwicklung wird in Fachkreisen kontrovers diskutiert – nicht zuletzt auch mit Blick auf die frühe Nutzenbewertung, in der Orphan Drugs einen Sonderstatus haben. Anders als die anderen Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen wird bei einem Orphan Drug fiktiv unterstellt, es habe einen Zusatznutzen. Folglich durchläuft das Dossier für ein Drug nicht den Begutachtungsprozess durch das IQWiG, sondern der Bundesausschuss beschließt direkt über das Ausmaß des Zusatznutzens als Grundlage für die Verhandlungen über den Erstattungsbetrag zwischen Hersteller und GKV-Spitzenverband. Relativ häufig kommt der Bundesausschuss zu dem Schluss, dass das der Zusatznutzen nicht quantifizierbar ist.
Mehr Druck vom Bundesausschuss?
Mit dem Konzept der Adaptive Pathways und Priority Medicines, so wird befürchtet, könnte sich die Datenlage für die frühe Nutzenbewertung verschlechtern. Vertreter der Arzneimittelbehörden argumentieren zwar, dass sich an der Qualität der Zulassungsbedingungen nichts ändern soll, gestehen aber andererseits zu, dass sie Schwierigkeiten haben, Auflagen – etwa die Lieferung weiterer Daten aus zusätzlichen klinischen Studien – durchzusetzen oder im Falle der Nichterfüllung Sanktionen zu erlassen. Mehr Druckmittel werden dabei dem Bundesausschuss zugetraut, der Nutzenbewertungsentscheidungen befristen kann – und in einem zweiten Verfahren Entscheidungen treffen könnte, die Einfluss auf die Höhe des Erstattungsbetrages hätten.
Trotz hohen Einzelpreises – meist fünfstellige jährliche Behandlungskosten pro Patient – haben Orphan Drugs derzeit nur einen moderaten Einfluss auf die gesamten Arzneimittelkosten. Bei 70 Prozent der Orphan Drugs liegen die Umsätze in Deutschland bei unter zehn Millionen Euro. Bei insgesamt 14 – das sind gut zehn Prozent – überschritt der Umsatz die 50-Millionen Euro-Grenze.