Haushohe Mauern zwischen Praxis und Klinik
Die Gesundheitsweisen teilen kräftig aus: Die medizinische Versorgung in Deutschland ist ineffizient. Großen Anteil daran haben die Ärzte selbst - in dem sie in Praxis und Klinik getrennt vor sich hinwerkeln. Doch es gibt Lösungen.
Veröffentlicht:BERLIN. "Deutschland ist ein geteiltes Land", sagt Professor Ferdinand Gerlach. Getrennt durch eine imaginäre Mauer werkelten Ärzte in Kliniken und die niedergelassenen Ärzte vor sich hin.
Die einen rechneten nach DRG ab, die anderen nach EBM. Qualitätssicherung betrachteten beide Gruppen durch unterschiedliche Brillen.
Das soll sich ändern. Wie? Das steht im Sondergutachten "Wettbewerb an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung", das eine Gruppe von Wissenschaftlern im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums verfasst hat.
Sie bilden den Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, der sich in der Regel alle zwei Jahre mit Gutachten in die gesundheitspolitische Diskussion einbringt.
Am Mittwoch übergaben die sieben Gesundheitsweisen das annähernd 500 Seiten starke Gutachten an Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) in Berlin.
Mehr Wettbewerb um Qualität
Die Mauer zwischen der Welt der Kliniker und der der niedergelassenen Ärzte müsse weg, ist Gerlach überzeugt, der der stellvertretende Vorsitzende des Rates ist.
Die Vorschläge im Gutachten sollen auch dazu dienen, Löcher in die Mauer zu sprengen, sie zu perforieren und sie letztendlich ganz verschwinden zu lassen.
Das Gutachten empfiehlt mehr Wettbewerb. Gemeint sei allerdings nicht der Wettbewerb um Preise und Einsparungen, sondern ein Wettbewerb um die bessere Versorgungsqualität, sagte Professor Eberhard Wille, aktueller Vorsitzender des Sachverständigenrats, bei der Übergabe des Gutachtens an Gesundheitsminister Daniel Bahr. Noch friste der Qualitäts- im Verhältnis zum Preiswettbewerb ein Schattendasein.
Die Qualität solle vom Patienten her gedacht werden, schlagen die Gutachter vor. Sinnvoll seien interne und externe Qualitätssicherungen.
Um die Dokumentationslasten in Kliniken und Praxen zu verringern, böten sich dafür vor allem die Routinedaten an, schlägt Gerlach vor. Größeres Gewicht sollten die sektorenübergreifenden Qualitätsindikatoren erhalten.
Dazu sollten auch die möglicherweise zu verhindernden Todesfälle und vermeidbare Krankenhauseinweisungen zählen.
Ambulante spezialfachärztliche Versorgung aufwerten
Konkrete Vorschläge, wo die Attacke auf die Sektorengrenzen ansetzen könne, hatten die Wissenschaftler dem Minister auch schon mitgebracht.
Einen Ansatz dafür sehen die Gesundheitsweisen in einer weiteren Aufwertung der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV). Sie habe das Zeug dazu, die Potenziale des ambulanten Bereichs auszuschöpfen, was bislang unterbleibe.
Dafür müsse aber ihr Leistungsspektrum erweitert werden. Statt die ASV auf seltene Erkrankungen, schwere Krankheitsverläufe und hochspezialisierte Leistungen zu beschränken, solle in ihr auch das ambulante Operieren, stationsersetzende Eingriffe und stationäre Kurzzeitfälle möglich sein.
Diese Regelungen waren im Entwurf des Versorgungsstrukturgesetzes bereits enthalten.
Aus Sorge vor unkontrollierter Mengenausweitungen in der keiner Bedarfsplanung und Mengenregulierung unterworfenen ASV wurden die entsprechenden Sätze kurz vor Toresschluss wieder aus dem Gesetz gekegelt.
Die Sachverständigen bieten dafür eine Lösung an. Ihr Vorschlag: Die ASV solle in Selektivverträgen geregelt werden.
Versorgungskontinuität herstellen
Sorge bereitet den Regierungsberatern die Versorgungskontinuität im Land. Patienten würden zwischen den Kliniken und den niedergelassenen Praxen hin- und hergeschoben.
Die Übergänge zwischen den Versorgungsbereichen seien ungeordnet. "Keiner übernimmt die Gesamtverantwortung", sagte Gerlach im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung".
Hier sehen die Gutachter Möglichkeiten einzugreifen. Für das Entlassungsmanagement der Krankenhäuser sollte es eine eigene nationale Leitlinie nach nationalen Expertenstandards geben, erklärte Professor Eberhard Wille.
Dazu zähle auch die Dokumentation von ungeplanten Wiedereinweisungen in die Klinik, die Teil der Qualitätsberichterstattung der Krankenhäuser werden solle.
Eine herausgehobene Rolle spiele in diesem Zusammenhang auch die sektorenübergreifende Arzneimitteltherapie. Beim Wechsel des Versorgungsbereiches sollten die Medikamentenpläne vollständig übermittel werden.
Halte ein Klinikarzt eine Umstellung der Medikation für erforderlich, solle er dies den niedergelassenen Kollegen begründen müssen und umgekehrt.
Die Reibungsverluste an den Schnittstellen verringern helfen könne die Informationstechnologie, ist Wille überzeugt. Allerdings rate der Sachverständigenrat zu einem besonnenen Umgang mit der Technologie.
Ineffizientes Gesundheitssystem
Die Gutachter regen weitere Reformen an. So könne eine Angleichung der möglichen Deckungsbeiträge von stationären Kurzzeitfällen und vergleichbaren ambulanten Behandlungen die Anreize beseitigen, die nach Ansicht der Sachverständigen zu zahlreichen Klinikbetten auszulasten.
Die Eigentumsverhältnisse Medizinischer Versorgungszentren sollten weniger stark reguliert werden, erklären die Gutachter.
"Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Rechtsform der Leistungsanbieter für die Versorgungsqualität von Bedeutung ist", sagt Gerlach.
Integrierte Versorgung
Die Politik nutze die Möglichkeiten der Integrierten Versorgung (IV), die Sektorengrenzen zu überwinden zu wenig, sagen die Gutachter. Die bisherigen Auflagen zum Beispiel für Hausarztverträge seien "prohibitiv".
Besser sei es, eine sektorenübergreifende Ausrichtung der IV und eine Evaluierung zur Bedingung zu machen, die DMP einzubeziehen, die Pflege und andere Heilberufe anzudocken sowie den Kassen die Verrechnung mit den Kassenärztlichen Vereinigungen zu erleichtern.
Um die Kassen zu Investitionen in die Integrierte Versorgung anzuregen, solle die Anschubfinanzierung wieder aufleben. Allerdings nicht nach dem alten Modell, mahnen die Sachverständigen.
Zinsverbilligte Darlehen zum Beispiel einer staatlichen Bank sollten den Kassen für fünf Jahre zur Verfügung stehen. Das gebe Planungssicherheit.
Der Anreizeffekt: Ergebe die verpflichtende Evaluation eindeutige Verbesserungen, soll dies einen teilweisen Erlass der Schulden mit sich bringen.
Wettbewerb braucht den informierten Patienten
Der geforderte Qualitätswettbewerb setze aber den informierten Patienten voraus. Die bisherigen Beratungsstellen reichten nicht aus, sagt Gerlach.
Die zahlreichen Beratungsangebote sollten daher entwirrt, vereinheitlicht und durch telefonische Angebote ergänzt werden.
In einer ersten Reaktion sagte Gesundheitsminister Daniel Bahr, Wettbewerb sei für die Bundesregierung ein "handlungsleitendes Thema".
Das Gesundheitswesen könne zwar nicht nach den Regeln eines freien Marktes organisiert werden, aber durch wettbewerbliche Elemente könne eine bessere Versorgung der gesetzlich Versicherten erreicht werden.
Die starren Grenzen zwischen ambulantem und stationärem Bereich hätten historische Gründe, betonte der Minister. Sie seien aber nicht begründet im Hinblick auf die bestmögliche Versorgung.
Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Wettbewerb um die Qualität ist das Ziel