"Gemeinsam klug entscheiden"

Den Ärzten fehlt einfach die Zeit!

Welche Therapie ist wirklich wichtig und wann kann es auch zuviel sein? Das sollen Ärzte und Patienten mit entsprechenden wissenschaftlichen Empfehlungen künftig gemeinsam entscheiden können. Damit das klappt, müssen sich aber erst die politischen Rahmenbedingungen ändern.

Julia FrischVon Julia Frisch Veröffentlicht:

NEU-ISENBURG. Gemeinsam klug entscheiden" sollen künftig Arzt und Patient über die Therapie. Das ist das Ziel der gleichnamigen Initiative der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF).

Die Frage bleibt nur: Woher sollen niedergelassene und Klinik-Ärzte die Zeit für solche intensiven Patientengespräche nehmen, zumal eine adäquate Honorierung fehlt?

"Choosing wisely" heißt in den USA eine Kampagne, die auf unnötige oder sogar schädliche medizinische Leistungen aufmerksam machen will. "Klug entscheiden" hat längst auch die Medizin in Deutschland erreicht, beim diesjährigen Internistenkongress hat es die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin zu ihrem Megathema gemacht.

Und bereits vor 15 Jahren hat der Sachverständigenrat das komplexe Problem mit seinem Gutachten zur "Über-, Unter- und Fehlversorgung" aufgegriffen.

Derzeit arbeitet die AWMF mit ihren 171 Fachgesellschaften arbeiten sie daran, Problembereiche zu identifizieren, in denen es Über-, Unter- oder Fehlversorgung gibt, weil Leitlinien nicht umgesetzt werden oder gar nicht vorhanden sind. 2016 sollen die ersten evidenzbasierten und auch mit anderen Berufsgruppen abgestimmten Empfehlungen veröffentlicht werden.

In der Kardiologie wird etwa die "Blutverdünnung bei schlaganfall-gefährdeten Patienten mit Vorhofflimmern" ein Thema sein.

Initiatoren wollen keine "Kochbuchmedizin"

Auf keinen Fall aber will die AWMF den Ärzten eine "Kochbuchmedizin" vorsetzen, die blindlings in Praxen und Kliniken umgesetzt wird. "Die Empfehlungen dürfen keinesfalls missverstanden werden als Regeln oder Standards", betonte jüngst AWMF-Präsident Rolf Kreienberg.

Die Empfehlungen, an denen zur Zeit schon zehn Fachgesellschaften arbeiten, sollen Arzt und Patient als Entscheidungsgrundlage dafür dienen, welche Behandlung vorgenommen wird. Leitlinien werden deshalb für Laien verständlich gemacht.

Ob sie im konkreten Fall dann aber überhaupt anwendbar sind, müssen Arzt und Patient im Gespräch miteinander ermitteln. Das Ziel, das über der Initiative "Gemeinsam klug Entscheiden" steht, ist eine individuellere Therapie, bei der die Wünsche und die Situation des Patienten stärker als bisher im Vordergrund stehen.

Der Nutzen besonders für niedergelassene Ärzte wird dort liegen, wo die Empfehlungen Patienten schwarz auf weiß zeigen, dass auch das Unterlassen medizinischer Leistungen zur ärztlichen Kunst gehört. Oft genug erwarten Patienten, dass ihr Doktor etwas tut - und sind dann enttäuscht, wenn nichts passiert.

"Der Doktor will ja nur sparen", Patienten werden misstrauisch. Auch das komplizierte Haftungsrecht trägt sicher dazu bei, dass manche Ärzte im Zweifel lieber zu viel als zu wenig tun.

Die AWMF will den Weg von einer industrialisierten zu einer individualisierten Therapie bereiten. "Vorhandene Evidenz muss auf die individuelle und unverwechselbare Krankengeschichte angewendet werden, und zwar mit Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, durch Nachdenken und Reflektieren", brachte es der Medizinethiker Giovanni Maio in der "Ärzte Zeitung" auf den Punkt - und bemerkte dabei, dass all diese Werte ärztlichen Handelns doch eigentlich selbstverständlich seien. "Offensichtlich müssen wir sie neu etablieren", so Maio.

Die Frage ist nur, ob das so einfach gelingt. Die meisten Ärzte wünschen sich, intensiver mit ihren Patienten über verschiedene Therapieoptionen sprechen zu können - dazu fehlt ihnen nur die Zeit. 7,8 Minuten pro Patient haben Hausärzte etwa für ein Gespräch durchschnittlich zur Verfügung, ergab vor vier Jahren eine Untersuchung des Kölner Instituts für Gesundheitsökonomie.

Bei solcher Knappheit wundert es nicht, dass nach einer weiteren Untersuchung der Uni Essen Ärzte ihren Patienten schon nach 18 Sekunden zum ersten Mal ins Wort fallen.

In den Kliniken ist es bekanntlich nicht besser. Die Patientenbeauftragte in Nordrhein-Westfalen etwa berichtete vor einigen Tagen darüber, dass sich viele Patienten über mangelnde Wertschätzung durch das Personal in den Krankenhäusern beklagten. Die Ursache. Zeitmangel.

Rahmenbedingungen müssen geändert werden

Die meisten Praxen sind voll und werden in manchen Regionen aufgrund Ärztemangels immer voller. Bei allem guten Willen: Wie sollen Ärzte, die am Anschlag arbeiten, bei jedem Patienten intensiv dessen Präferenzen eruieren? Dass dann oft die 08/15-Therapie verordnet wird, das muss keinen verwundern - und ist auch keinem vorzuwerfen.

Außer der Politik, die es nicht schafft, die Rahmenbedingungen für eine Initiative wie "Gemeinsam klug Entscheiden" zu setzen: durch ein System, dass nicht das Durchschleusen von Patienten oder das Durchführen von OPs belohnt, sondern das Gespräch mit den Patienten. Und das mit mehr als 9 Euro, wie es gerade die EBM-Ziffer 03230/04230 vorsieht - und ohne Mengenbegrenzung!

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