Gesundheitsweiser Gerlach im Interview
"Die jetzige Praxis der Krankschreibung ist realitätsfern"
Wer trotz Krankheit ein paar Stunden am Tag arbeiten kann, solle dies auch tun können, findet der Sachverständigenrat. Dieser Vorschlag sorgt für Aufsehen, viele Ärzte lehnen die Teil-AU ab. Im Interview erläutert Professor Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrates, wie sich die Teilzeit-Krankschreibung praktisch umsetzen lässt.
Veröffentlicht:Prof. Ferdinand M. Gerlach
Geboren 1961 in Marsberg, habilitierte sich Gerlach 1998 nach Promotion und Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin.
Seit 2004 ist er Universitätsprofessor für Allgemeinmedizin und Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Universität Frankfurt am Main.
Im September 2012 ist Gerlach, der auch DEGAM-Chef ist, zum Vorsitzenden des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen berufen worden.
Ärzte Zeitung: Bei unserer Leser-Umfrage hielten 65 Prozent der 520 Teilnehmer nichts von der Idee, eine Teilarbeitsunfähigkeit zu prüfen. Verstehen die alle Ihre Vorschläge nicht?
Professor Ferdinand Gerlach: Wenn die Ärzte sich die umfangreichen Analysen und insgesamt dreizehn Vorschläge des Sachverständigenrats genau angeschaut hätten, sähen die Zahlen wahrscheinlich anders aus.
Was wir vorschlagen, gibt es in Deutschland ja schon. Ab der siebten Woche können Krankgeschriebene nach dem Hamburger Modell schrittweise in den Arbeitsprozess zurückkehren. Das wird gerne genutzt und hat sich in Deutschland absolut bewährt.
Wir sagen lediglich, dass man diese Möglichkeit zukünftig nicht erst ab der siebten Woche zur Verfügung haben sollte, sondern in Fällen, in denen das passt, auch schon vorher.
In Schweden wird das seit 25 Jahren genau so praktiziert, wie wir das jetzt auch für Deutschland vorschlagen. Das Modell ist dort ausführlich evaluiert worden. Aufgrund der sehr positiven Erfahrungen haben auch Dänemark, Norwegen und Finnland es übernommen.
In Österreich wird aktuell darüber diskutiert, es ebenfalls einzuführen. Das könnte allen zu denken geben, die glauben, dass die Teil-AU eine vollkommen abwegige Idee wäre.
DDer Vorsitzende des Hausärzteverbands sagt, Schweden sei mit Deutschland nicht vergleichbar, die skandinavische Kultur nicht so einfach auf Deutschland zu übertragen.
Gerlach: Das mag sein. Aber das Hamburger Modell ab der siebten Woche wird ja in Deutschland seit langem problemlos angewendet. Da sind offenbar viele falsche Vorstellungen im Raum.
Liegt die öffentliche Wahrnehmung Ihrer Vorschläge denn so falsch?
Gerlach: Wir haben bisher wahrscheinlich nicht ausreichend erklärt, was genau wir vorgeschlagen haben. Wir wollen keineswegs, dass Ärzte mit allen Patienten über Teilarbeitsunfähigkeit sprechen müssen.
Wir wollen zum Beispiel auch definitiv nicht, dass Menschen mit einem grippalen Infekt zeitweise zur Arbeit geschickt werden. Die Teilkrankschreibung soll freiwillig sein.
Sie soll nur dann angewendet werden, wenn Arzt und Patient davon überzeugt sind, dass das im Einzelfall eine sinnvolle Maßnahme ist. Ein Fernfahrer kann nicht teilweise arbeiten, ein Dachdecker muss bei seinen Einsätzen zu 100 Prozent fit sein.
Aber wir wissen aus der Praxis, dass es viele Patienten gibt, für die ein solches Modell auch innerhalb der ersten sechs Wochen sehr sinnvoll sein könnte.
Denken wir mal an eine Verkäuferin die schwanger ist und sich geschwächt fühlt. Sie sagt, acht Stunden Stehen halte ich nicht mehr durch. Ich könnte vielleicht einen halben Tag arbeiten. Hier hat der Arzt keine Alternative. Er muss sie komplett krankschreiben.
Ein anderes Beispiel: Sie kommen aus dem Skiurlaub zurück und haben sich den Fuß verstaucht. Es gibt viele Arbeitsplätze, an denen Sie dann trotzdem noch am Schreibtisch sitzen und Ihre E-Mails bearbeiten könnten.
Bei Krankschreibungen gibt es in Deutschland aber nur ein Alles oder Nichts. Die jetzige Praxis ist realitätsfern.
Die häufigsten Auslöser von Langzeit-Krankschreibungen sind aber Rückenbeschwerden und psychische Störungen…
Gerlach: Richtig, und in beiden Fällen wissen wir, dass es vielfach nicht sinnvoll ist, dass Patienten entweder sechs Wochen lang alleine zuhause sitzen, ohne soziale Kontakte, oder sich sechs Wochen lang ins Bett legen und sich schonen.
Im Gegenteil: Es ist medizinisch sinnvoll, dass sie nicht ganz aussteigen, dass sie weiter unter Leute kommen, dass sie sich bewegen. Für den ein oder anderen Patienten mit Rückenleiden könnte es in den ersten sechs Wochen einer Krankschreibung durchaus sinnvoll sein, dass er vormittags zum Beispiel vier Stunden arbeiten und nachmittags zur Physiotherapie geht.
Ich weiß aus meiner eigenen zwanzigjährigen Praxiserfahrung, dass es auch viele Patienten gibt , die von sich aus sagen, sie würden gerne wieder arbeiten gehen, weil ihnen sonst zu Hause die Decke auf den Kopf falle.
Sie wissen, dass ihre Kollegen für sie mitarbeiten müssen, aber sie selbst halten, auchangesichts der heutigen Arbeitsverdichtung, noch nicht wieder den vollen Stress aus.
Für diese speziellen Fälle, von denen es gar nicht so wenige gibt, soll es eine zusätzliche Option geben, also ein Angebot, dass man freiwillig nutzen kann.
In den skandinavischen Ländern wird davon ohne jede Aufregung und mit hoher Akzeptanz seit langem Gebrauch gemacht. Wir machen es in Deutschland ab der siebten Woche. Was spricht also dagegen, es auch in den ersten sechs Wochen einer Krankschreibung zu ermöglichen?
Ärzte wenden ein, dass ihnen nicht die Zeit bleibt, mit Patienten ein Restleistungsvermögen zu verhandeln. Eine Relativierung des Leistungsvermögens sei nicht objektivierbar.
Gerlach: Das stimmt ja so nicht. Eine Krankschreibung ist ja auch jetzt schon immer eine Konsensentscheidung mit dem Patienten. Und im Hamburger Modell wird ja ebenfalls festgelegt, wie viel einem Arbeitnehmer nach der Rekonvaleszenz schon wieder zugemutet werden kann.
Es ist ja auch nicht so gedacht, dass in jedem einzelnen Fall eine Diskussion über die Höhe des Restleistungsvermögens geführt wird. Das ist eine völlig falsche Vorstellung. Das soll nur dann geschehen, wenn es im Einzelfall sinnvoll ist.
Wenn es zum Beispiel eine Grippewelle gibt, werden alle zu 100 Prozent krankgeschrieben, die mit dem Infekt in die Praxis kommen. Da gibt es keine Diskussionen.
Die Teilarbeitsunfähigkeit ist ein zusätzliches Angebot, das flexibler und alltagspraktisch näher an der Realität ist als die praxisferne Alles oder Nichts-Regelung.
Ein weiterer Einwand der Ärzte ist, es entstehe bürokratischer Aufwand: sowohl in der Praxis, in der Verlängerung aber auch bei Arbeitgebern und Kassen.
Gerlach: Ich kann immer wieder nur auf das Hamburger Modell verweisen. Da wird es bundesweit ja bereits gemacht. Unbürokratisch umsetzen ließe sich die Teilkrankschreibung zum Beispiel mit einem zusätzlichen Auswahlfeld auf dem gelben Zettel, wo der Arzt neben dem Regelfall alternativ auch 25, 50 oder 75 Prozent Krankschreibung ankreuzen kann.
Es geht darum, in wenigen Einzelfällen ein Häkchen setzen. Das ist kein unüberwindbarer bürokratischer Aufwand.
Kritik gibt es auch an Ihrem Vorschlag, nur noch eine Hauptdiagnose anzugeben…
Gerlach: Gerade wurde noch Entbürokratisierung gefordert. Jetzt machen wir einen Vorschlag. Und jetzt ist es wieder nicht recht.
Wir haben uns auch dabei etwas gedacht. Unsere Analysen der jetzigen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zeigen, dass hier teilweise schon von der Praxis-EDV alles an Dauerdiagnosen reingedruckt wird, was der Computer hergibt.
Und damit ergibt sich ein völlig verwirrendes Bild. Dann steht da auch bei länger andauernder Arbeitsunfähigkeit als Begründung Tonsillitis oder Fußpilz. Hier entsteht Wirrwarr.
Es gibt auch noch ein tiefer liegendes Problem. Mehrfachbegründungen bei der Krankschreibung führen bei der Berechnung der Blockfristen zu erheblichen Problemen. Arbeitsunfähigkeit hat Spielregeln. Ab der siebten Woche gibt es Krankengeld.
Das wird bis zu 78 Wochen bezahlt - innerhalb einer dreijährigen Blockfrist. Erst wenn die Blockfrist abgelaufen ist, können sie mit der gleichen Erkrankung wieder Krankengeld beziehen. Sie können aber auch sofort wieder Ansprüche geltend machen, wenn es sich um eine andere Erkrankung handelt.
Um das zu unterscheiden benötigt man eine die Arbeitsunfähigkeit begründende Hauptdiagnose.
Es ist etwas schizophren, wenn man auf der einen Seite eine Verwaltungsvereinfachung und Entbürokratisierung fordert und auf der anderen, wenn so ein Vorschlag gemacht wird, dann doch alles kreuz und quer und ohne Priorisierung von Haupt- und Nebendiagnosen auf den Schein drucken möchte.
Stellen die Sachverständigen mit ihrem Vorschlag den Spargedanken über das Patientenwohl?
Gerlach: Wir haben den Vorschlag im Interesse der Patienten gemacht, mit dem Ziel die Autonomie und Lebensqualität der Versicherten zu erhöhen und um die Krankschreibung zukünftig flexibler und alltagsnäher zu gestalten.
Die Kostenaspekte waren bei diesem Vorschlag überhaupt nicht handlungsleitend. Es ist sogar so, dass es für die Versicherten ab der siebten Woche finanziell ein Vorteil wäre.
Warum denn das?
Gerlach: In den ersten sechs Wochen bekommt jeder Versicherte eine vollständige Lohnfortzahlung. Ab der siebten Woche kommt das Krankengeld, das 70 Prozent des Bruttolohns ausmacht, maximal 90 Prozent vom Netto.
Wenn Sie jetzt das Hamburger Modell anwenden, so wie es heute ist, und Sie gehen halbtags arbeiten, dann bekommen Sie trotzdem nur das Krankengeld. Sie bekommen auch dann nicht mehr, wenn Sie 75 Prozent arbeiten gehen. Der Arbeitgeber muss ja erst dann wieder einen Cent zahlen, wenn Sie 100 Prozent gesund sind.
Wie finden die Kassen das, wenn sie aus Beitragsgeld Arbeit subventionieren?
Gerlach: Eben. Das ist jetzt ein ordnungspolitisches Problem, denn die Beitragszahler zahlen im Hamburger Modell auch für einen Versicherten, obwohl der seinen Job schon wieder zu drei Vierteln ausfüllt. Das ist nicht einzusehen.
Wenn unser Vorschlag umgesetzt würde, dann hätten die Betroffenen mehr Geld im Portemonnaie. Würde jemand halbtags arbeiten, hätte er nach unserem Modell für diesen halben Tag den vollen Lohn und für die andere Tageshälfte dann die 70 Prozent Krankengeld.
Das könnte sogar ein Anreiz sein für die Versicherten, von der Wiedereinstiegsmöglichkeit Gebrauch zu machen.
Während der ersten sechs Wochen hätte allerdings der Arbeitgeber den Vorteil, weil er im Gegensatz zu heute einen Teil der Arbeitskraft als Gegenleistung für die Lohnfortzahlung bekäme.