Streikverbot für Ärzte
"Urteil ist verheerendes Signal"
Medi-Chef Baumgärtner ist enttäuscht vom Urteil des Bundessozialgerichts, das Vertragsärzten kein Streikrecht zubilligt. Den Kasseler Richtern attestiert er Mutlosigkeit – nun will er nach Karlsruhe ziehen.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Sind Sie enttäuscht oder haben Sie das Urteil erwartet?
Dr. Werner Baumgärtner: Ich habe es zwar erwartet, bin aber dennoch sehr enttäuscht, weil es an der Zeit gewesen wäre, die offenen Fragen, die man in der mündlichen Verhandlung auch diskutiert hatte, mutiger anzugehen, anstatt nur weiter auf den Systemerhalt zu setzen.
Die Frage, ob Freiberufler streiken dürfen, wurde so an das Bundesverfassungsgericht weitergeleitet. Ich hätte etwas mehr Mut erwartet.
Das BSG urteilt, der Gesetzgeber habe mit dem Vertragsarztrecht "die teilweise gegenläufigen Interessen von Krankenkassen und Ärzten zum Ausgleich gebracht". Wie kommentieren Sie diese Einlassung?
Baumgärtner: Das mag stimmen, aber was hat der betroffene Vertragsarzt davon, wenn Kassen und KVen gesetzliche Vorgaben zu seinen Lasten umsetzen und in der politischen Lobbyarbeit zum Beispiel zu festen und angemessenen Preisen oder überbordender Bürokratie total versagen?
Reine Versorgerpraxen müssen mit Fallwerten um die 50 Euro am Rande der Rentabilität arbeiten. Nach Auffassung des BSG hat der Vertragsarzt das alles freudig zu ertragen – in der Gewissheit, in einem System zu arbeiten, wo die Körperschaften nicht in Insolvenz gehen können, was als großer Vorteil bezeichnet wurde.
Wenn Praxen dann wegen der Regresse oder der Rahmenbedingungen in Insolvenz gehen, haben die Vertragsärzte das auch freudig hinzunehmen und der Einzelne ist selbst schuld und nicht das intransparente System.
Vertragsärzte müssen das für sie geltende Regelungspaket als Ganzes anerkennen, fordert das BSG. Was bedeutet dies für das Droh- und Protestpotenzial ärztlicher Verbände?
Baumgärtner: Nun, nach der mündlichen Begründung dürfen wir schon ein bis zweimal im Jahr protestieren, wobei wir trotzdem nicht sicher sein können, Strafen bis zum Entzug der Zulassung zu erhalten.
Ansonsten müssen wir zufrieden sein mit dem, was die KVen aushandeln oder gegebenenfalls im Schiedsamt erreichen, weil wir ja in einem privilegierten System arbeiten dürfen. Wenn wir in einem System der Verteilungsgerechtigkeit ohne Anspruch auf angemessene Preise aber streiken wollen, so wird uns das verwehrt.
Die BSG-Richter haben in ihrer Begründung auf die Einbindung der Vertragsärzte in den Sicherstellungsauftrag der KVen abgehoben. Doch diese Sicherstellung bröckelt – auch ohne Streiks – in immer mehr Regionen. Wie valide ist aus Ihrer Sicht dieses Argument?
Baumgärtner: Das ist rechtlich sicher einer der Schwachpunkte, denn der Sicherstellungsauftrag wird ja politisch immer mehr ausgehöhlt: Man denke nur an die Öffnung der Krankenhäuser, die ambulante spezialärztliche Versorgung, die Selektivverträge.
Auch die politisch gewünschte Substitution ärztlicher Leistungen wird am Sicherstellungsauftrag nagen. Dennoch sieht das BSG uns durch den Sicherstellungsauftrag privilegiert – ich kann mich nur wundern.
Planen Sie weitere rechtliche Schritte? Wenn ja, vor welchem Gericht?
Baumgärtner: Wir haben jetzt vier Wochen Zeit, um eine Klage beim Bundesverfassungsgericht einzureichen. Wenn es nach mir geht, werden wir das tun.
Ich denke auch noch weiter, denn warum sollen andere niedergelassene Ärztinnen und Ärzte in anderen europäischen Ländern streiken dürfen und in Deutschland ist es verboten?
Welches Signal sendet dieses Urteil an den ärztlichen Nachwuchs?
Baumgärtner: Ein verheerendes Signal! Denn neben Budgetierung und Regressen in einem intransparenten System hat man als Freiberufler zudem keinen Anspruch auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit. Das ist eigentlich ein Hammer und passt nicht mehr ins 21. Jahrhundert!
Dr. Werner Baumgärtner
Der Allgemeinarzt (65) ist Vorsitzender von Medi Baden-Württemberg.
Er war von 1995 bis 2005 Vorsitzender der KV Nordwürttemberg, von 2001 bis 2004 KBV-Vorstandsmitglied.
Am 10. Oktober und 21. November 2012 schloss er seine Praxis und zeigte dies seiner KV an.