Interview

Pflege-Reform: "Ein Prozess, der Jahre dauert"

Die schwarz-gelbe Koalition lobt sich für ihre Pflegereform, Kritiker bezeichnen sie als substanzlos. Gesundheitsstaatssekretärin Widmann-Mauz hält im Interview dagegen: Den Kern der Reform kritisiere niemand. Aber auch sie räumt eine Schwachstelle ein.

Veröffentlicht:
Widmann-Mauz: Menschen nicht schlechter stellen.

Widmann-Mauz: Menschen nicht schlechter stellen.

© dpa

Ärzte Zeitung: Die schwarz-gelbe Koalition hat lange lediglich diskutiert. Jetzt ist die Pflegereform durchs Kabinett. Die Kritik daran ist harsch: "Substanzlos", "zu kurz gesprungen". Haben Sie nicht gründlich genug gearbeitet?

Annette Widmann-Mauz: Auffällig ist doch: Niemand kritisiert den Kern der Pflegereform, geschweige denn die Maßnahmen im Einzelnen. Nur, die Reform hätte noch üppiger ausfallen können. Das müssen sich aber alle fragen, wie viel ihnen Pflege eigentlich wert ist.

Ärzte Zeitung: Wann kommt der versprochene große Wurf?

Widmann-Mauz: Von der Vorstellung, ab dem 1. Januar 2013 sei die Welt gut und alle Zukunftsaufgaben gelöst, müssen wir uns verabschieden. Aber es wird an diesem Stichtag konkrete, spürbare Verbesserungen geben.

Einen wichtigen Schritt gehen wir jetzt: Wir verbessern die ambulanten Leistungen für demenzkranke Menschen. Weitere Schritte werden folgen. Grundlegende Systemveränderungen sind nicht von heute auf morgen umsetzbar.

Ärzte Zeitung: Wie sollen die verbesserten Leistungen genau aussehen?

Annette Widmann-Mauz

Aktuelle Position: Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium.

Werdegang/Ausbildung: Geboren 1966; Studium der Politischen und der Rechtswissenschaften in Tübingen.

Karriere: Von 1993 bis 1998 Projektarbeit für die EU-Kommission; seit 1998 sitzt Widmann-Mauz für die CDU im Deutschen Bundestag.

Widmann-Mauz: Künftig wird es vier, statt jetzt drei Pflegestufen geben. Damit erhalten demenzerkrankte Menschen mehr Pflegesachleistungen und Pflegegeld. Neben Pflege und hauswirtschaftlichen Leistungen werden auch Betreuungsleistungen abgedeckt.

Dieses bisherige Leck in der Pflegeversicherung, versuchen wir jetzt zu dichten. Gleichzeitig arbeitet der Expertenbeirat daran, die konkreten Umsetzungsempfehlungen und den Zeitplan für den neuen Pflegebegriff bis zum Ende des Jahres vorzulegen.

Ärzte Zeitung: Länder und Pflegeverbände kritisieren, dass der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in Ihrer Reform nach wie vor fehlt.

Widmann-Mauz: Allen Beteiligten im Expertenbeirat war klar, dass die Umsetzung des neuen Pflegebegriffs in konkrete Leistungen noch einige Zeit brauchen wird. Es beginnt schon bei den Einstufungen der Pflegebedürftigen. Es gilt zu vermeiden, dass viele Menschen durch das neue System schlechter gestellt werden.

Zudem müssen Begutachter auf das neue System geschult und alle circa 2,4 Millionen Pflegebedürftigen neu begutachtet werden. Doch dann sind wir noch immer nicht am Ziel. Mit jeder einzelnen Pflegeeinrichtung oder jedem Pflegedienst müssen neue Verträge abgeschlossen werden.

Das gesamte System wird sozusagen einmal auf "Reset" gedrückt werden. Die Neuinstallation ist ein Prozess, der insgesamt einige Jahre dauert.

Ärzte Zeitung: Dennoch: Hätten Sie nicht schon viel weiter sein können? Haben Sie sich 2011, im "Jahr der Pflege" nicht zu sehr im Koalitionsstreit verloren?

Widmann-Mauz: Wir haben die Zeit genutzt. Wir haben mit denjenigen, die betroffen sind, und mit Pflegeverbänden geklärt, wo die Prioritäten liegen. Der Expertenbeirat setzt sich jetzt mit dieser Vorarbeit auseinander.

Außerdem haben wir viele neue Ideen in dieser Zeit entwickelt. Ein Beispiel sind die Pflege-WGs, die wir künftig fördern wollen. In Zukunft wird es mehr alleinstehende Menschen geben, die kein familiäres Umfeld haben, das sie pflegen könnte. Auf diese Weise können Menschen trotzdem möglichst lange in der gewohnten Umgebung und Häuslichkeit verbleiben.

Ärzte Zeitung: Die Koalitionsregierung verspricht mehr Wahlmöglichkeiten für die Pflegebedürftigen, zum Beispiel will sie weg von der Minutenpflege. Lässt sich das so leicht in die Praxis umsetzen?

Widmann-Mauz: In Zukunft gibt es die Möglichkeit, statt Leistungskomplexen Zeitkontingente mit dem Pflegedienst zu vereinbaren. Für manchen Pflegedienst mag es zunächst noch ungewohnt sein, mit diesem Mehr an Freiheit umzugehen.

Da werden noch einige Diskussionen geführt werden, wie Pflege und Betreuung künftig inhaltlich und praktisch aussehen.

Ärzte Zeitung: Der Medizinische Dienst stand in jüngerer Zeit immer wieder in der Kritik.

Widmann-Mauz: Die Begutachtungsverfahren dauerten oftmals zu lange. Die Betroffenen fühlen sich zudem oft als Bittsteller. Künftig soll es bei den Begutachtungsverfahren mehr Transparenz geben, wie das Ergebnis zustande gekommen ist.

Zudem wollen wir Wahlmöglichkeiten schaffen, auch andere Gutachter heranzuziehen. Außerdem muss schneller entschieden werden - natürlich sachlich korrekt.

Ärzte Zeitung: Ärzte sollen für Heimbesuche mehr Geld erhalten. Der GKV-Spitzenverband sagt aber, der Sicherstellungsauftrag in der ambulanten Versorgung gelte auch für Pflegebedürftige. Hat er Recht?

Widmann-Mauz: Pflegeheimbewohner leben nicht auf einem anderen Stern, der außerhalb des Sicherstellungsauftrages liegt. Jeder muss ärztlich versorgt werden, auch die Heimbewohner. Allerdings sieht die Realität manchmal anders aus.

In unterversorgten Gebieten kann es schwierig sein, neue Patienten aufzunehmen. Daher ist es wichtig, Anreize zu setzen. Gute medizinische Versorgung im Heim spart unnötige Krankenhausaufenthalte und vermeidet unnötige Ausgaben für vermeidbare Zwischenfälle.

Ärzte Zeitung: Themenwechsel. Die Länder haben das Durchführungsgesetz der Internationalen Gesundheitsvorschriften und damit Meldepflichten und kürzere Meldewege bei Infektionskrankheiten blockiert. Droht das Gesetz zu scheitern?

Widmann-Mauz: Eine Infektionswelle - wie bei EHEC - ist nie ganz auszuschließen. In einer solchen Situation würde ich mir als Ländervertreter ungern vorwerfen lassen, dass ein besseres Meldesystem Schlimmeres hätte verhindern können. Ich baue darauf, dass die Länder wissen, welche Verantwortung sie tragen.

Ärzte Zeitung: Die Kliniken fordern einen Finanzierungsausgleich für die jüngsten Tariferhöhungen. Was sagen Sie den Chefärzten?

Widmann-Mauz: Die Situation der Krankenhäuser im Jahr 2010 war so gut, wie seit mehr als zehn Jahren nicht mehr. Nur weniger als 20 Prozent haben ihre wirtschaftliche Situation als düster eingeschätzt. Die Ausgaben sind jedoch beim Personal und den Sachkosten deutlich gestiegen.

Wir müssen zumindest das Ende der Tarifverhandlungen abwarten, bevor wir entscheiden zu handeln. Es ist viel Geld in den Krankenhaussektor geflossen, 12 Milliarden Euro mehr seit 2005. Daher müssen wir uns auch die Mengenentwicklung anschauen. Die höheren Fallzahlen können allerdings nicht nur durch mehr Morbidität erklärt werden.

Wir reden gerne über den Preis, aber dann müssen wir auch über die Menge reden. Von der Krankenhausseite haben wir bereits Vorschläge erhalten. Denn letzten Endes darf nicht wie so oft an den Pflegekräften in den Krankenhäusern gespart werden.

Das Interview führte Sunna Gieseke.

Schlagworte:
Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema
Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Lesetipps
Privatliquidation in der ärztlichen Zukunft? Erst einmal bräuchte es vom Verordnungsgeber ein GOÄ-Update, was – auch ob des innerärztlichen Streits – in den Sternen steht.

© KI-generiert mit ChatGPT-4o

Tag der Privatmedizin

GOÄneu: Reuther und Reinhardt demonstrieren Geschlossenheit

Zweifarbig geteilter Bürostuhl

© Shah Zaman Khan/Wirestock / stoc

Gemeinsamer Kassensitz

Aus eins mach zwei: So gelingt Jobsharing in der Praxis