Krankenkassen im Goldrausch
Seit Wochen wurde diskutiert, nun ist es amtlich: Die Krankenkassen haben im vergangenen Jahr Überschüsse von vier Milliarden Euro erwirtschaftet - und das trotz gestiegener Ausgaben. Nun geht die Diskussion um die Mittel in die heiße Phase.
Veröffentlicht:BERLIN. Die gesetzlichen Krankenkassen haben im vergangenen Jahr trotz massiver Kostendämpfungsgesetze 3,9 Milliarden Euro mehr als 2010 ausgegeben. Die Leistungsausgaben sind im Durchschnitt um 2,6 Prozent gestiegen.
Dagegen sanken die Verwaltungskosten aller Kassen im Schnitt um ein Prozent. Sie betrugen im vergangenen Jahr 9,36 Milliarden Euro, 120 Millionen Euro weniger als im Jahr zuvor. Diese Zahlen hat das Bundesgesundheitsministerium am Mittwoch mitgeteilt.
GKV mit vier Milliarden Euro im Plus
Veränderung je GKV-Mitglied in Prozent 1. bis 4. Quartal 2011 im Vergleich zum 1. bis 4. Quartal 2010 | |
Leistungsausgaben insgesamt | 2,6 |
Ärztliche Behandlung | 2,1 |
Zahnbehandlung (kons-chirurg.) | 1,6 |
Zahnersatz | 2,1 |
Arznei- u. Verbandsmittel insgesamt | - 4,0 |
Häusliche Krankenpflege | 10,7 |
Krankenhausbehandlung | 3,7 |
Krankheitsverhütung/soziale Dienste | 5,7 |
Krankengeld | 9,4 |
Fahrkosten | 6,1 |
Kuren und Rehabilitation | - 1,3 |
Früherkennungsmaßnahmen | 1,0 |
Leistungen bei Schwangerschaft ohne stat. Entbindung | 1,4 |
Verwaltungskosten | - 1,0 |
Ausgaben insgesamt | 179.612 Mio. Euro |
Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds | 178.758 Mio. Euro |
Beitragseinnahmen vor dem 1.1.2009 | 1.723 Mio. Euro |
Übrige Einnahmen | 3.157 Mio. Euro |
Einnahmen insgesamt | 183.639 Mio. Euro |
Überschuss | 4.027 Mio. Euro |
Quelle: BMG/KV 45, Tabelle: Ärzte Zeitung |
Allerdings: Die Beitragseinnahmen der Kassen belaufen sich auf 169,1 Milliarden Euro, die Ausgaben dagegen auf 178,9 Milliarden Euro. Ohne den Bundeszuschuss von 15,13 Milliarden Euro hätte die GKV somit ein dickes Minus verzeichnet.
Die Überschüsse sind zwischen den Kassenarten ungleich verteilt. Die Ersatzkassen verzeichnen ein rechnerisches Polster von 1,8 Milliarden Euro, rund 960 Millionen Euro davon entfallen allein auf die Techniker Krankenkasse.
Das AOK-System weist in den Büchern einen Überschuss von 1,28 Milliarden Euro aus; Betriebskrankenkassen (554 Millionen Euro), Innungskrankenkassen (271 Millionen Euro) und die Knappschaft (67 Millionen Euro).
Bremsspur bei den Arzneiausgaben
Die Ausgabenentwicklung in den großen Leistungsbereichen ist sehr heterogen. Der Zuwachs bei der ambulanten ärztlichen Behandlung liegt mit 2,1 Prozent je Versicherten unter dem Durchschnitt der GKV.
Allerdings liegen verlässliche Abrechnungsdaten nur für das erste Halbjahr vor. In absoluten Zahlen am stärksten haben die Ausgaben der Krankenhäuser zugelegt. Sie stiegen um zwei Milliarden Euro - das entspricht 3,7 Prozent - auf 60,8 Milliarden Euro.
Deutliche Bremsspuren haben die Kostendämpfungsgesetze bei den Arzneimittelausgaben hinterlassen. Sie sanken über das Jahr um vier Prozent auf 30,87 Milliarden Euro.
Dabei warnt das Bundesgesundheitsministerium, dass im vierten Quartal die Ausgaben wieder um 1,2 Prozent gestiegen sind.
Weiter dynamisch sind 2011 die Ausgaben für das Krankengeld gewachsen. Allerdings bleibt das Plus von 9,4 Prozent hinter den zweistelligen Zuwachsraten der vergangenen Jahre zurück. Dennoch beträgt das Delta im Vergleich zum Jahr 2010 rund 700 Millionen Euro (insgesamt 8,51 Milliarden Euro).
Ursache seien mehr Beschäftigte mit langen Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen sowie mehr Krankengeldbezieher, die kurz vor der Verrentung stehen, erläuterte das Ministerium.
Reaktive Kakofonie
Das Echo auf die Zahlen ist erwartungsgemäß kakofon ausgefallen. Schon 2013 könne der Gesundheitsfonds wieder in die roten Zahlen rutschen, warnten die Vorstände der Kassen und ihrer Verbände unisono.
Die Techniker Krankenkasse, die mit 962 Millionen Euro den höchsten Überschuss einer Einzelkasse gemacht hat, wies die Forderung nach Prämienausschüttungen zurück.
TK-Chef Professor Norbert Klusen sieht mit Blick auf die Unberechenbarkeit des Gesundheitsfonds dazu keinen Spielraum, sagte er der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Die TK-Versicherten profitierten dennoch, da die Kasse ihr freiwilliges Leistungsspektrum erweitert habe.
Die Steuerzuschüsse für versicherungsfremde Leistungen müssten gewährleistet bleiben. Als wahrscheinlich gilt, dass sich Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) die zwei Milliarden Euro wieder holt, die er 2011 zusätzlich an den Gesundheitsfonds überwiesen hat.
Die sollten dazu dienen, einen Sozialausgleich für Menschen zu finanzieren, die von Zusatzbeiträgen überfordert werden. "Die Reserven der gesetzlichen Krankenkassen taugen nicht zum Notnagel für den Bundeshaushalt", warnte der Vorsitzende des AOK-Bundesverbands Jürgen Graalmann.
Zwangsrabatte senken, fordert die Industrie
Die Arzneimittelhersteller und die Krankenhäuser sehen angesichts der sprudelnden Kasseneinnahmen die Geschäftsgrundlage für die von ihnen zu leistenden Sparbeiträge entfallen.
Die Zwangsrabatte müssten von 16 Prozent auf das Niveau von 2009 - sechs Prozent - zurückgeführt werden, forderte Henning Fahrenkamp, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie (BPI).
Auch das geltende Preismoratorium müsse aufgehoben werden. Auf steigende Personalkosten in den Kliniken verwies der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Alfred Dänzer. Sie sollten Anlass sein, über Hilfen für die Krankenhäuser jetzt zu entscheiden, forderte er.
Die Überschüsse von Kassen und Fonds beleben auch die Debatte über den Sinn der Praxisgebühr. Grüne, Linke und neuerdings auch die FDP-Fraktion im Bundestag haben sich dafür ausgesprochen, sie abzuschaffen.
Die zehn Euro hätten sich mehr als Finanzierungs- denn als Steuerungsinstrument erwiesen. Zudem verursache die Praxisgebühr Folgekosten, hieß es.
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