Medizinhistoriker und NS-Überlebender
"Wir können die Vergangenheit nicht wegschieben"
Er war Medizinhistoriker an der FU Berlin: Professor Gerhard Baader (85) wuchs als Sohn jüdisch-christlicher Eltern in den 20er Jahren in Wien auf. Er entkam den Nazis und erforschte die Rolle der Medizin in der NS-Zeit. Als Betroffener und Historiker nimmt er in ethischen Fragen kein Blatt vor den Mund.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Herr Professor Baader, trotz Ihrer Erlebnisse haben Sie sich entschieden, Medizinhistoriker zu werden. Warum haben Sie diesen Weg gewählt?
Professor Gerhard Baader: Dass ich mich für den Weg entschieden habe, kann man fast nicht sagen. Eher hat es sich ergeben, weil ich von vornherein Wert darauf gelegt habe, meinen politischen Anspruch und meine wissenschaftliche Arbeit nicht auseinander driften zu lassen.
Seit 1967 lehre ich an der Freien Universität Berlin. Da entstand unter anderem eine Arbeitsgemeinschaft "Medizin ohne Menschlichkeit". Studenten kamen zu mir und sagten, sie wollten sich mit der Psychiatrie beschäftigen.
Ein anderer wichtiger Punkt für mich war die Euthanasie. Seit 1982 nehme ich am Arbeitskreis zur Erforschung der Geschichte der NS-Euthanasie und Zwangssterilisation teil. Das war eine bunte Mischung aus jungen Oberärzten der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie, Historikern und Medizinhistorikern sowie Theologen. Auch heute nehmen wir zu allen möglichen Themen kritisch Stellung.
Das letzte Gefecht war die Präimplantationsdiagnostik. Unsere ganzen Befürchtungen, dass sie nur in berechtigten Ausnahmefällen angewendet wird, sind noch bei weitem übertroffen worden! Ob das genetisches Screening war oder PID, uns ist immer erzählt worden, das ist für extreme Ausnahmefälle. Aber nach kurzer Zeit ist es selbstverständlich Routine.
Das befürchten Sie auch bei der PID?
Baader: Das ist bereits praktisch da. Die Selektion ist quasi in die Petrischale verlegt. Damit sind die Dämme gebrochen. Da sagen wir ganz klar, das ist jetzt Realität und die müssen wir kritisch begleiten.
In Israel wird das zum Beispiel lockerer gesehen. Dort ist man bei der Reproduktionsmedizin sehr weit vorn.
Baader: Zu weit! Das muss ich ganz offen sagen, die israelische Debatte ist ein Kapitel für sich und hängt mit der Frage zusammen, wann beginnt menschliches Leben? Primär ist jedes Leben zu schützen.
Nur gibt es eine Abstufung des Lebens - und dann beginnt das menschliche Leben eigentlich erst in dem Augenblick, wenn der Kopf aus dem Uterus draußen ist. Wenn das der Fall ist, kann ich abgestuft mit allem, was vorher ist, ohne große Bedenken umgehen. So ist die Auffassung Israels zu erklären.
Dazu gibt es zwei absolute Gebote: Du darfst nicht tatenlos am Blut deines Bruders stehen. Daraus leitet sich das Heilungsgebot ab. Das zweite ist das absolute Gebot der Vermehrung. Mit diesen beiden Geboten gibt es also keine Probleme.
Interessanterweise ist in Israel auch die Eugenik durchaus anerkannt und gängig. Ich habe große Schwierigkeiten gehabt, als ich zehn Jahre dort Professor war. Meine Kritik an der Eugenik wurde nicht verstanden.
Aber davon darf man sich in Deutschland nicht beeinflussen lassen. Unsere Debatte unterscheidet sich von den meisten europäischen Ländern: Wir können die Vergangenheit nicht wegschieben, sondern müssen sie immer mit reflektieren, wenn wir die heutige Situation betrachten.
Ein Argument gerade bei neuen Forschungsmethoden ist, man würde vom Fortschritt abgehängt, wenn man diese nicht zulässt. Bisher verhält sich Deutschland in diesen Punkten sehr zurückhaltend - zurecht?
Baader: Von meinem Standpunkt aus gesehen - ja. Auf der anderen Seite habe ich in einer medizinethischen Vorlesung erlebt, wie ein junger Reproduktionsmediziner verzweifelt für ein Moratorium plädierte und sagte: "Es ist ja alles gut, was Sie kritisieren, aber bisher ist immer noch alles gemacht worden, was möglich war."
Das ist das Dilemma. Hier müssen wir verantwortlich handeln und dabei kann uns die Beschäftigung mit der Vergangenheit helfen. Die Reflexion sollte uns immer eine Warnung sein vor fehlgeleiteten Interessen unter bestimmten Rahmenbedingungen.
Denn die Forscher der damaligen Zeit waren keine Scharlatane, sondern in der überwiegenden Zeit anerkannte Wissenschaftler, die nicht außerhalb des gültigen wissenschaftlichen Paradigmas gestanden sind. Aber sie haben auch bestimmte Grenzen überschritten.
Sie haben auch die Eugenik angesprochen. Befürworter argumentieren oft, man wolle damit doch schlimme Erkrankungen verhindern. Laufen wir dabei nicht Gefahr, eine Liste unerwünschten Lebens aufzustellen?
Baader: Druck in diese Richtung wird heute vor allem unter dem Mantel der Eigenverantwortung ausgeübt: Du bist selbst schuld. Wenn du zum Beispiel den Gentest nicht machst, wie willst du dann von der Gesellschaft etwas verlangen?
Wir müssen uns davon verabschieden: Es gibt keine leidensfreie Gesellschaft oder schmerzfreie Menschen. Auch Behinderung gehört zum Leben. Das Ziel "Inklusion" haben wir noch lange nicht verwirklicht. Wir müssen immer wieder fragen: Ist es richtig, alles, was wir als anders definieren - früher hieß es lebensunwert - auszugrenzen? Sollte es nicht eher das Ziel sein, in einer humanen Gesellschaft mit all ihren Facetten leben zu können?
Beispiel: Eugenik. Bei der Eugenik passiert heute eine Manipulation. Die Manipulation gibt vor, dass man nur auf eine Nachfrage antwortet. Das, was früher staatlich verordnetes eugenisches Konzept war, wird heute auf den Einzelnen verlagert. Diese Individualisierung passiert in vielen Bereichen - und da müssen wir aufpassen.
Also macht es für Sie keinen Unterschied, ob es vom Staat vorgegeben oder vom Einzelnen nachgefragt wird?
Baader: Genau das ist jetzt die neue Form. Die Nachfrage wird ganz gezielt durch bestimmte Interessengruppen hervorgerufen, die Bedürfnisse für bestimmte Dinge wecken. Das hört nicht bei der Eugenik auf, dazu gehört auch Lifestyle und anderes. Das macht nicht nur die Situation als solche komplizierter, sondern auch die Argumentation.
Finden die Warnungen denn Gehör in Deutschland?
Baader: Gruppen wie unser Arbeitskreis und viele, die im Gesundheitswesen tätig sind, sind in einem täglichen offenen Diskurs. Das macht die deutsche Situation besonders. Dennoch sind wir uns im Klaren, dass wir oft in der Defensive sind.
Oft sind wir gezwungen, auf etwas zu antworten, das in der Luft liegt, wie jetzt bei der Sterbehilfedebatte. Ich habe immer gesagt, die PID war die letzte Bastion, bevor es wieder an die Sterbehilfe gehen wird - und so weit sind wir jetzt wieder.
Trotzdem herrscht ein offener Diskurs. Anders als in Israel haben wir aber eine Medizinethik, die vor allem halachisch [an religiösen jüdischen Gesetzen orientiert, Anm. d. Red.] orientiert ist, die bestimmte klare Normen setzt - das schafft einen anderen Rahmen für den Diskurs.
Trotzdem müssen wir aufpassen: Im Namen eines sogenannten Liberalismus geht man leichtfertiger mit ethischen Fragen um, als mit solchen, die eindeutig in ethischen Normen festgelegt sind, seien diese religiös begründet oder nicht.
Bleiben wir bei der Sterbehilfe. Die Mehrheit der Ärzteschaft wehrt sich gegen den assistierten Suizid. Wie beurteilen Sie das?
Baader: Ich bin froh über die Position der Ärzte. Denn von der religiös halachischen Position aus gilt für uns: Kein Funken Lebens darf auch nur um einen Augenblick verkürzt werden! Und den Sterbenden darf ich nicht berühren, weil ich allein durch die Berührung eine Verkürzung des Lebens herbeiführen könnte.
Das ist ein absolutes Gebot! Auf der anderen Seite wird hier im Wesentlichen von der Moral und der philosophischen Seite her wieder eine Diskussion über Sterbehilfe vom Zaun gebrochen, die zum Teil unterschwellig geführt wird.
Die Ärzteschaft vertritt für mich dabei eine sehr begrüßenswerte, klare Haltung - und das muss auch so sein. Denn wir sehen es am Beispiel Holland, dort gibt es nicht nur Befürworter. Die kritischen Ärzte, die zu uns kommen, warnen immer wieder: Als Arzt ist man nicht in der Lage zwei Rollen zu spielen - die des Heilers UND des Töters. Sie raten uns: "Seid vorsichtig, dass das bei euch nicht auch passiert."
Auf der anderen Seite werden Ärzte auch mit dem Sterbenswunsch unheilbar kranker Patienten konfrontiert.
Baader: Hier müssen Ärzte sich auf die Palliativmedizin und die Schmerztherapie stützen, sodass der Patient bei vollem Bewusstsein in der Lage ist, zu gehen. Uns steht es nicht zu, Leben zu beenden. Es unter allen Umständen zu erleichtern schon - genau das kann die Palliativmedizin. Da sind wir im Gegensatz zu den USA aber noch Entwicklungsland.
Aber auch die Forschung hat Grenzen. Eine Konsequenz aus den Verbrechen der NS-Medizin war die Erklärung von Helsinki, die Richtlinien für klinische Studien festlegt. Kürzlich gab es einen Vorstoß der EU-Kommission, die Richtlinien auch gerade auf die Beteiligung von Ethikkommissionen hin aufzuweichen.
Baader: Die Vorstöße der Europäischen Union haben wir sehr kritisch begleitet. Ich spreche dabei vor allem von der Forschung an nicht-einwilligungsfähigen Personen. Das war seinerzeit ein EU-Vorschlag. Deutschland hat dies aber nicht ratifiziert, da die deutsche Ärzteschaft diesen Vorschlag eindeutig abgelehnt hat.
Die Tatsache, dass Helsinki immer weiter ausgehöhlt wird, verfolgen wir mit Misstrauen. Solche Vorstöße machen eine offene Diskussion nötig. Dabei hat die Ärzteschaft aufgrund ihrer Sachkompetenz eine tragende Rolle. Es ist sehr schwer, Moratorien einzuführen. Dafür müssen wir bereit sein, humanes Handeln als Norm zu setzen.
Sind wir heute ausreichend für ethische Konflikte sensibilisiert?
Baader: Natürlich ist es nicht angenehm zu wissen, dass 20 Prozent der Deutschen - und das hat sich seit 1948 nicht geändert - antisemitische Vorurteile teilen. Auf der anderen Seite liegen wir international im mittleren Feld.
Das könnte uns beruhigen, aber es ist eben nicht alles bestens. Denn im Gegensatz zu anderen Ländern hat Deutschland große Anstrengungen zur Aufarbeitung unternommen. Dann ist das Ergebnis nicht mehr so berauschend. Unterschwellig sind Vorurteile also immer noch präsent.
Einige wurden etwa in der Beschneidungsdebatte deutlich.
Baader: Für Juden gibt es dabei keine Diskussion. Die Bar-Mizwa ist ein religiöses Gebot. Das würden wir machen, was auch immer die Gesellschaft dazu entscheidet! Also muss sich die Gesellschaft entscheiden, ob sie jüdisches Leben haben will oder nicht. Wenn sie es haben will, muss sie auch mit der Beschneidung leben.
Das heißt nicht, dass dafür nicht auch einige Dinge gewährleistet sein müssen, etwa was den Schmerz angeht. Viele der heiß diskutierten Aspekte kommen aber ohnehin nur in ultra-orthodoxen Kreisen vor. In vielen Staaten ist zum Beispiel vorgeschrieben, dass Mohalim entsprechend ausgebildet sein müssen.
Das aufregende in der Beschneidungsdebatte war, dass auf einmal alle antisemitischen Klischees, die man eigentlich irgendwo in der Mottenkiste geglaubt hatte, wieder hochgekocht sind. Und das hat uns beunruhigt und wird es auch weiterhin.
Gerhard Baader - ein Zeitzeuge
Mit der Reichskristallnacht am 9. November 1938 startete die Verfolgung der Juden. Das veränderte auch das Leben des Medizinhistorikers Gerhard Baader.
Brennende Synagogen, zerschmetterte Fenster, bekritzelte jüdische Geschäfte. Mit der Reichskristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938 beginnt von Deutschland aus die systematische Verfolgung der Juden. Gerhard Baader ist damals zehn Jahre alt und lebt mit seinen Eltern - der Vater christlichen, die Mutter jüdischen Glaubens - in Wien.
An den 9. November kann der Medizinhistoriker sich auch heute noch gut erinnern. Er war in der Schule. "Wir sind dann zu einer brennenden Synagoge geführt worden. Ich war ganz verstört", erzählt er in einem Interview mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg. Auf seinem Nachhauseweg lag ein jüdisches "Zuckerlgeschäft", dessen Scheiben eingeschlagen und verschmiert waren.
Seine frühesten, bewussten Eindrücke aus dieser Zeit stammen jedoch aus dem März desselben Jahres, sagt der 85-Jährige. Die deutschen Truppen waren gerade in Österreich einmarschiert. Mit seinem Vater war er unterwegs zum Wiener Prater. Sie sahen Dutzende jüdische Männer, die auf den Straßen knieten, um politische Parolen vom Boden abzuschrubben. Beobachtet von gelangweilten SA-Männern. "Das Geschäft, sie mit Fußtritten zu traktieren, haben die Wiener besorgt", berichtet Baader heute, 75 Jahre später.
Seine Familie war zentral von der Verfolgung betroffen, dabei spielte das Judentum für sie keine große Rolle. Allenfalls an Feiertagen erlebte der junge Gerhard Baader bei der Großmutter jüdische Bräuche. Er selbst wurde christlich getauft.
Als sich der Vater weigerte, sich von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen, um in die Partei einzutreten, begann für die Familie die "soziale Isolation". Der Vater verlor seine Anstellung als Studienrat, wurde zwangsweise früh pensioniert und erhält nur eine niedrige Rente.
Sie mussten umziehen, denn "1938 musste der Bezirk judenrein werden". Im letzten Moment fanden sie noch eine Wohnung in der Leopoldstadt, ein später jüdischer Wohnbezirk Wiens. "Unser Vermieter war zwar ein Nazi, dachte sich aber, ein anständiger Mieter wäre ihm wichtiger", erzählt Baader. Das Haus wurde mit der Zeit zum "Judenhaus".
"Dort ist natürlich jede Nacht die Gestapo zum Selektieren gekommen." Auch Deportationen sind Teil seiner Welt: Er erzählt von geplanten Besuchen bei Verwandten, bei denen er plötzlich vor versiegelten Türen stand. Oder von Juden, die auf offenen Lastwagen deportiert wurden. Sein Onkel überlebt das Konzentrationslager nur knapp.
Baader selbst hatte immer wieder Glück im Unglück: So wurde er vor Beginn der Aktionen eingeschult und konnte noch vier Jahre das Gymnasium besuchen. Gleichwohl war er dort Schikanen ausgeliefert, musste in der letzten Reihe, der "Judenbank", sitzen. Auch in der Zwangsarbeit (1942-44) bleibt ihm das Glück treu.
Er wurde nicht wie die meisten in einem Rüstungs- sondern in einem Installationsbetrieb für Heizungen und sanitäre Anlagen eingesetzt. Damit entkam er der Isolation und begann zu leben. "Ich bin ins Kino und in den Prater gegangen - alles Dinge, die uns verwehrt waren." Ein hohes Risiko, immerhin hätte das die vorzeitige Deportation bedeuten können. Doch Baader wurde nicht erwischt.
Kurz vor Kriegsende 1944 kam er ins Arbeitslager. Auch hier entging er knapp dem Tode. Als das Lager von der SS übernommen wurde, kehrte er von einem Auslandseinsatz zurück und konnte sich nach Hause retten.
Nach dem Krieg holte Baader sein Abitur nach und begann seine universitäre Karriere. Sein persönlicher Lebensweg ließ ihn aber auch beruflich nicht los. Ab 1967 lehrte er als Medizinhistoriker an der FU Berlin.
Auf Wunsch von Studenten behandelt er etwa den Umgang mit psychisch Kranken in der NS-Zeit. Ab 1980 wird "Medizin im Nationalsozialismus" einer seiner Schwerpunkte. (jvb)