Bioethik in der EU

Eine Gemeinschaft der Wertevielfalt

Der jüngste Beschluss in Belgien zur Sterbehilfe bei Kindern macht deutlich: Bei bioethischen Fragen herrscht in Europa eine Wertevielfalt - obwohl die Völkergemeinschaft viele gemeinsame Werte teilt.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Pentobarbital zur Sterbehilfe: Beispiel für bioethische Themen, die in der EU unterschiedlich geregelt werden.

Pentobarbital zur Sterbehilfe: Beispiel für bioethische Themen, die in der EU unterschiedlich geregelt werden.

© Gaetan Bally / dpa

BRÜSSEL/BERLIN. Abschied aus der Wertegemeinschaft? Das belgische Parlament hat am Donnerstag beschlossen, dass auch Minderjährige in Belgien künftig Sterbehilfe in Anspruch nehmen dürfen.

Diesseits der deutsch-belgischen Grenzen läuft es vielen kalt den Rücken herunter, wenn sie nach der Entscheidung Richtung Westen schauen. Vor ihrem inneren Auge erscheinen Ärzte, die schwer kranken Kindern tödliche Spritzen geben.

Wollen die Belgier also Untaten legalisieren? "Mit dieser Entscheidung verabschiedet sich Belgien von den gemeinsamen humanitären Werten in Europa" - das sagte Thomas Sitte, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Palliativ-Stiftung, in der "FAZ".

Ein sehr grundsätzlicher und schwerer Vorwurf an unsere Nachbarn. Tatsächlich war in Belgien zu beobachten, wie unterschiedlich die ethisch-moralischen Bewertungen dort ausfielen. Die Debatte zeigte, dass sich die Parlamentarier nach unterschiedlichen Überzeugungen richten.

Die Mehrheit der Abgeordneten in Belgien argumentierten, auch Kinder hätten das Recht auf ein menschenwürdiges Lebensende. Diese Würde lasse sich im Zweifel nur durch den freien Willen eines urteilsfähigen Menschen einlösen. Auch wenn dieser Mensch erst acht Jahre alt sein sollte. Auch wenn er sich den Tod wünschen sollte. Sogar besonders dann.

Besonders die christdemokratischen Abgeordneten sprachen sich gegen das Gesetzesvorhaben aus. Und auch in Deutschland reagierten christsoziale Abgeordnete scharf auf die Entscheidung. "Eine Gesellschaft, die im Ergebnis das Töten sogar der eigenen Kinder legalisiert, hätte Bankrott erklärt", sagte etwa der CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Brand der "Welt".

Nein, natürlich haben die Belgier sich nicht aus der Wertegemeinschaft verabschiedet. Denn die Wertegemeinschaft existiert oft vor allem als Wertevielfalt. Denn gerade in moralischen Fragen legen sich viele Europäer nicht nur hüben und drüben der deutsch-belgischen Grenze sehr unterschiedlich fest.

Vielfalt moralischer Ankerpunkte

Das haben auch die Bundestagdebatten in der Vergangenheit gezeigt, in denen der Fraktionszwang aufgehoben und Parlamentarier aus sehr unterschiedlichen Überzeugungen heraus diskutiert haben. Dabei ging es beispielsweise um Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik (PID) oder die Patientenverfügung.

Die oft zitierte europäische Wertegemeinschaft entpuppte sich als Landschaft verschiedenster moralischer Haltungen. Was als "richtig" und "gut" eingestuft wird oder als "falsch" und "böse" hängt offenbar von den weltanschaulichen Vorentscheidungen der Einzelnen ab.

So gilt manchen das fünfte Gebot, "Du sollst nicht töten", als Richtschnur. Anderen geht die Freiheit des Einzelnen über alles: Sie sehen die Moral am Ende, wo die Selbstbestimmung eingeengt wird.

Wieder andere halten die Menschenwürde für eine soziale Angelegenheit, hier wäre die schiere Selbstbestimmung gar kein Ziel. Vielen Christen gelten Glaube, Liebe und Hoffnung als Haltepunkte in moralisch schwierigem Gelände. Manch anderer folgt den vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Maßhalten, Tapferkeit und Weisheit.

Man muss dem Palliativmediziner Sitte wohl entgegenhalten: In Belgien herrscht eine ähnliche Vielfalt der Überzeugungen wie in Deutschland - wenn auch wohl nicht eine ähnliche parlamentarische Mehrheit.

Aber in einem gleichen sich die Abgeordneten in europäischen Parlamenten: In ihren fraktionsübergreifenden Debatten erklären sie, wonach sie sich richten und was ihnen am Herzen liegt, wenn es um Grenzfragen des Lebens geht - wie etwa in der Sterbehilfe.

Das macht diese Debatten so interessant, denn sie zeigen die moralisch-ethische Verfassung der Volksvertreter und wie mit persönlichen Überzeugungen umgegangen wird.

Trotz und wegen der unterschiedlichen Haltungen haben die Abgeordneten sich darauf geeinigt, einander möglichst zuzuhören, auch wenn das in Belgien nicht immer gelungen ist. Schließlich sind sie zu einer Entscheidung gekommen. Das war in Brüssel so, und das wird in Berlin so sein.

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Kommentare
Lutz Barth 17.02.201408:18 Uhr

Individuelle Werte respektieren!

Der Hinweis auf die Wertepluralität nicht nur in Europa, sondern auch hierzulande ist von zentraler Bedeutung und es wäre wünschenswert, wenn die Eliten sich von der Vorstellung verabschieden, es gäbe einen Konsens mit Blick auf das „gute Sterben“, welches stets individuell ist und allein von und aus der Binnenperspektive des jeweiligen Grundrechtsträgers maßgeblich geprägt wird.

Der Sterbehilfediskurs war, ist und bleibt ein „Kampf um Werte“, der nur dadurch befriedet werden kann, in dem wir gegenüber Andersdenkenden Toleranz üben. Zentraler Aspekt hierbei ist der vorbehaltlose Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht und insofern hat es einen faden Beigeschmack, wenn hierzulande Ethiker, Mediziner, aber auch Theologen sich dazu aufschwingen, den „Untergang der Humanität“ zu beklagen.

Die Apologeten einer zuvörderst „christlichen Sterbekultur“ sollten in erster Linie verinnerlichen, dass Belgien ebenso wie andere europäischen Nachbarstaaten durch diese Wertepluralität gekennzeichnet ist und mit ihren Regelungen zur Sterbehilfe danach streben, auch die Meinung des jeweiligen Staatsvolkes widerzuspiegeln.

In Deutschland hingegen bleibt die Debatte um die Liberalisierung der Sterbehilfe nach wie vor insbesondere soziologisch unterbelichtet, bleibt doch das überwiegende Votum der Bürgerinnen und Bürger offensichtlich ungehört. Dies muss verwundern, ließe sich doch auf unspektakuläre Weise eine Liberalisierung der Sterbehilferegelungen vornehmen, wie sich unschwer aus dem Alternativentwurf eines Sterbehilfegesetzes ablesen lässt.

Die Prämissen hierbei sind eindeutig: es geht vor allem darum, das Selbstbestimmungsrecht zu schützen und von dieser Warte aus betrachtet muss eine Regelung zugleich auch die Wertepluralität widerspiegeln, die zu leugnen keinen Sinn macht.

Was also bleibt?

Vielleicht die Erkenntnis der politisch Verantwortlichen, dass es nicht nur mehr um die eigene Gewissensentscheidung jenseits eines Fraktionszwanges geht, sondern auch darum, sich in den Dienst des gesamten Staatsvolkes zu stellen und demzufolge nach einer Regelung zur Sterbehilfe zu streben, die das Selbstbestimmungsrecht und die damit verbundene Pluralität von „Werten“, „Motiven“ und damit Innenansichten des Schwersterkrankten und Sterbenden abzusichern versucht.

Dies ist nicht unmöglich, wie etwa der Alternativentwurf dokumentiert, und die Parlamentarier mögen sich nicht für die Zwecke einer einseitigen „Werteausrichtung“ instrumentalisieren lassen, sondern zugleich auch die für selbstverständlich gehaltenen Grundrechte des „Wahlvolkes“ dergestalt beachten, als dass ein Jeder für sein Leben die eigene Verantwortung trägt.

Wenn dies gelingen sollte, hat sich Deutschland und damit die Abgeordneten in einer gewichtigen Debatte an das Toleranzprinzip erinnert und das Sterben bleibt ein individueller Akt, der frei von Instrumentalisierungsversuchen und Ideologien bleibt, mag auch der einzelne Abgeordnete eine abweichende Gewissensentscheidung dazu haben.

Er sollte diese Gewissensentscheidung auch seinen Mitbürgerinnen und Bürgern konzedieren und diese damit in die „Freiheit“ der Selbstbestimmung entlassen.

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