Industrialisierung in der Medizin

Gehirnwäsche kostet ärztliche Sorgfalt

Die Umgestaltung des Gesundheitswesens nach Prinzipien, die der Industrie entlehnt sind, ist ein Irrweg, findet Medizinethiker Maio. Wer Patienten optimal versorgen soll, muss von medizinfremden Anreizsystemen und überbordenden Kontrollen verschont bleiben, betont er auf dem DGIM-Kongress - und erntet donnernden Applaus.

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:

Professor Giovanni Maio

Gehirnwäsche kostet ärztliche Sorgfalt

© Oliver Lieber

Position: Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Werdegang: Studium der Philosophie und Medizin, langjährige internistisch-klinische Tätigkeit, Weiterbildung an medizintheoretischen Instituten. 2000 Habilitation für Ethik in der Medizin; 2004 Rufe auf Lehrstühle in Zürich, Aachen und Bochum; 2005 Ruf auf den Lehrstuhl für Medizinethik an die Universität Freiburg.

Engagement: Mitglied in verschiedenen überregionalen Ethikkommissionen und Ethikbeiräten, Mitglied des Ethik-Beirates der Malteser Deutschland, Mitglied des Ausschusses für ethische und juristische Grundsatzfragen der Bundesärztekammer, bioethischer Berater der Deutschen Bischofskonferenz.

MANNHEIM. Den guten Arzt erkennt man nicht nur daran, dass er das Notwendige tut, sondern mehr noch daran, dass er das Unnötige unterlässt.

An diesem treffenden Zitat des politisch sonst nicht ganz so treffsicheren Internisten Ferdinand Hoff gemessen befindet sich die moderne Medizin derzeit auf Abwegen.

Das Unnötige zu unterlassen ist keine Tugend, die in der modernen Medizin einen besonders hohen Stellenwert genießt. Diagnostischer und therapeutischer Aktionismus ist vielerorts das Gebot der Stunde.

Systemische Lösungen suchen!

Professor Giovanni Maio vom Lehrstuhl für Medizinethik der Universität Freiburg beschäftigte sich in seinem Plenarvortrag beim Internistenkongress in Mannheim mit der Frage, warum das so ist und welche Konsequenzen diese Entwicklung hat.

Die wichtigste Erklärung für die mittlerweile unübersehbare Tendenz zur Überversorgung sei der Umbau des Gesundheitswesens entlang einer aus der Industrie entlehnten Produktionslogik: "Politisch gewollt schafft man ein System mit Anreizen zur Produktivitätssteigerung. Und wenn die Ärzte danach handeln, weil sie sonst nicht existieren können oder Abteilungen geschlossen werden, kritisiert man sie, weil sie zu viel machen."

Statt mit dem Finger auf einzelne Personen oder Einrichtungen zu zeigen, plädierte der Medizinethiker dafür, Überdiagnostik und Übertherapie als systemisches Problem anzusehen und entsprechend systemische Lösungen zu suchen.

Mit Einzelmaßnahmen sei es nicht getan. Nötig sei vielmehr eine Abkehr von der "grundlegend falschen Prämisse, dass es in der Medizin so zugehen sollte wie in der Industrie."

Ärztliche Sorgfalt geht verloren

Welche Konsequenzen hat es, wenn die Medizin nach Industriekriterien organisiert wird? Zum einen wird die eigentliche Leistung des Arztes dadurch auf einzelne Eingriffe reduziert. Ausgeblendet wird dagegen das, was dem Eingriff vorausgeht, die ärztliche Sorgfalt.

Maio befürchtet auf Dauer eine Art Gehirnwäsche mit unabsehbaren Folgen: "Internistisches Denken heißt in Zusammenhängen denken. Je mehr Ärzte allein nach der Zahl der Eingriffe und nach dokumentierten Parametern bewertet werden, desto mehr werden sie selbst vergessen, dass sie mehr leisten als in diesen Parametern abgebildet wird."

Letztlich steige dadurch die Anfälligkeit des Einzelnen, sich wider besseren Wissens in eine Mengenausweitung zu flüchten.

Für Maio hat das politische Gesundheitswesen bis heute nicht verstanden, was ärztliche Betreuung eigentlich bedeutet: "In der Medizin geht es um den Umgang mit Wahrscheinlichkeiten, nicht um absolute Sicherheiten. Deswegen braucht der Arzt Ermessensspielräume, um situationsgerecht zu entscheiden."

In der Realität geht der Trend genau in die andere Richtung: Behandlungsabläufe werden immer stärker standardisiert. Diese Art der Kontrolle sei für den Arzt demotivierend, weil sie impliziere dass er nicht wisse, wie zu entscheiden sei.

Eine weitere, sehr unmittelbare Konsequenz aus der industriellen Geisteshaltung ist die immer stärkere Zeitknappheit, die einem diagnostischen und therapeutischen Aktionismus ebenfalls Vorschub leistet.

Das richtige Maß wiederfinden

Berichte über den DGIM-Kongress

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Zu den Berichten über den DGIM-Kongress

Statt die Diagnostik durch medizinische Sorgfalt zu kanalisieren, begünstige die moderne Art der Patientenversorgung eine Schrotschussdiagnostik, die allenfalls anfangs, nicht aber langfristig Ressourcen spare.

"Eine diagnostische Kultur, die rein der betriebswirtschaftlichen Rationalität folgt, belastet nicht nur den Patienten. Sie ist am Ende auch teurer", so Maio.

Bei aller Kritik betonte Maio allerdings auch, dass es grundsätzlich ein Fortschritt sei, dass Ärzte heute mehr machen und auch mehr diagnostizieren können als je zuvor: "Ein Plädoyer für eine Medizin der Bescheidenheit kann kein vernünftiger Mensch ernsthaft halten." Vielmehr müsse es darauf ankommen, das richtige Maß wiederzufinden.

Derzeit gebe es in der Medizin eindeutig ein Präjudiz für das Machen. Die eigentliche Leistung des Arztes ist für Maio aber das Nachdenken und Abwägen, das dem Machen vorausgeht. Dafür sei Zeit erforderlich, und diese Zeit müsse den Ärzten zugestanden werden.

Seine Zuhörer spendeten donnernden Applaus.

Lesen Sie dazu auch: Interview: "Ärzte sind in einen Machbarkeitssog geraten"

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Kommentare
Dr. Thomas Georg Schätzler 20.04.201515:55 Uhr

Industrialisierung der Medizin - schöne, neue Rhön-Welt?

Es ist wirklich ein heißes Eisen: Für w e n sollen wir als Ärzte/-innen unsere Profession eigentlich ausüben? Für die Patientinnen und Patienten, für unseren eigenen Lebensunterhalt, aus rein(?) altruistischen Motiven, ferngesteuert, fremd- oder selbstbestimmt. Sind es der medizinisch-industrielle Komplex, Pharma-, Gesundheits- und Krankheitsindustrien, die uns lenken? Sind wir ''ferngesteuert'' für Kassen, Verwaltungen, Politik und Gesundheitsökonomie tätig?

Werden unsere Freude an der Medizin, unser vitales, leidenschaftliches Interesse an Anamnese, Untersuchung, Beratung, Differenzialdiagnose, differenzierter Therapie und Palliation nur noch von einer hochentwickelten Gesundheitswirtschaft ausgenutzt und ausgebeutet?

Vor einigen Jahren habe ich in Bochum während einer Fortbildungsveranstaltung "Psychosomatische Medizin" der Thure von Uexküll-Akademie Herrn Prof. Paul U. Unschuld persönlich kennen gelernt. Sein Buch: "Ware Gesundheit - Das Ende der klassischen Medizin" gibt es in einer 3. aktualisierten und erweiterten Auflage 2014 (C. H. Beck-Verlag, Paperback). Darin beschreibt er Gesundheit als Menschheitstraum.

Nicht nur die europäische Kultur habe seit über zwei Jahrtausenden oft im Widerspruch zur Theologie versucht, den Traum vom individuellen, individualisierten, existenziellen Wohlbefinden bzw. A b w e s e n h e i t von Krankheit selbstbestimmt zu verwirklichen. Grundlagen dazu seien Erkenntnis, Wissen und Beherrschung der Naturgesetze, Physiologie, Biochemie, Genetik, Infektiologie und Propädeutik als Grundlagenforschung gewesen.

Das heutige Potential, Abweichungen zu erkennen, Krankheiten zu heilen, Leiden zu mindern und das Leben selbst zu beeinflussen, ist enorm. Der Mensch kann mittels medizinischem Erkenntnisfortschritt Kontrazeption, Konzeption, Reproduktion, Geburt, aber auch genetische, endogene, exogene, infektiologische, systemische und degenerative Dispositionen, Leiden und Erkrankungen bis hin zu Alterungsvorgängen beeinflussen oder gar manipulieren.

Zugleich naht damit das Ende der klassischen Medizin in Form der reinen Arzt-Patient-Interaktion. Technischer Fortschritt, geänderte Formen der Wissensbildung, gesellschaftlicher Wandel, medizinisch-technischer Komplex, EDV-Techniken, Arbeitsteilung und die zunehmende Vergesellschaftung bzw. Ökonomisierung haben Ärzte als wesentliche, zentrale Entscheidungsträger verdrängt und neue wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Akteure an die Macht gebracht.

Diese betrachteten erstmals in der Geschichte den Kranken als wirtschafts- und sozialpolitische, ökonomische Ressource: Gesundheit als Ware, Patient als Kunde, Arzt als Dienstleister. Weitgehend Medizin-bildungsferne Schichten übernehmen die überwiegend verwaltende Deutungshoheit über Gesundheit, Prävention, Krankheit und Zugang zu medizinischen Versorgungs-Dienstleistungen.

Besonders abschreckendes Beispiel von ebenso Medizin-bildungsfernem Dilettantismus wie zugleich entfesseltem Ökonomismus zeigen die Positionen von Eugen Münch, Ex-Vorstand und jetziger Aufsichtsratsvorsitzender der Rhön-Klinikum AG: Diese hatte 2014 "43 Kliniken und Medizinische Versorgungszentren an den Konkurrenten Fresenius verkauft. Das Geld aus diesem Verkauf wolle Münch nun für ein neues Projekt einsetzen, wie Münch vor kurzem auf dem Gesundheitskongress des Westens erklärt hatte: Für den Ausbau und die Konzentration diagnostischer Zentren in Bad Neustadt. Leistungsstarke Computertomographen sollen Münch zufolge künftig einen Ganzkörperscan mit sämtlichen verfügbaren Gesundheitsdaten liefern. In der Region werde dies den Hausarzt vor Ort überflüssig machen." (Quelle: http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/62524)

In einem Protokoll wurde die Rhön-Geschäftsführung damit beauftragt, ein Konzept für neue Strukturen der Ambulanz für den Standort Marburg (Universitätsklinikum Gießen/Marburg - Eigentümer Rhön-Klinikum AG) zu erstellen und dieses „unter Verme

Günther Binnewies 20.04.201510:54 Uhr

Hallo „Fritz Kahn“

Bei aller Auseinandersetzung, sei es ökonomisch, seien es die „Fortschritte der Medizin“ ist völlig aus dem Blickfeld geraten, dass die Medizin – selbstverständlich auch die Psychologie – einer falschen Philosophie aufsitzt. Der Mensch besteht aus Körper, Seele und Geist! Betrachtet werden aber ausschließlich nur Körper und „Psyche“. Was ist das? Fritz Kahn (Arzt) hat 1925 den Menschen als Industriepalast gepriesen, nachdem Sigmund Freud dem Menschen einen „Psychischen Apparat“ zuwies. Die Aufklärung trägt nun, nach Jahrhunderten, endlich Früchte: das Mensch-Mschine-Modell mit seinen Abartigkeiten bis zum Gen-Design. Die Diagnose-Ausuferungen der DSM 5 bezeugen die derzeitige Gangart. Es heißt zwar der Patient stehe im Mittelpunkt – nach Dieter Hildebrand: „Der Patient ist Mittel.“! Im Mittelpunkt steht ausschließlich nur noch der Mammon, das hatte H.-J. Hoppe schon bemängelt.
Wir danken Herrn Prof. Maio in einem Maße, wie er sich das kaum vorstellen kann. Es gibt jedoch schon lange entsprechende Kritiken, nur sind die SVO der Ärzte offenbar nicht bereit, sich dies zu Gemüte zu führen. Die SVO sind doch lobbyistisch an der Regierung beteiligt? Hat nun doch der Mammon gesiegt?
Auch die Ärztliche Kunst ist bereits verloren gegangen, auch das machte J.-D. Hoppe deutlich, allerdings nicht in einem dieser Blätter, sondern sehr viel versteckter!
Entsprechende Literaturliste kann zur Verfügung gestellt werden.
Mit dem Wunsch, dass sich die „Experten“ sich einmal doch dem wahren Gehalt der Medizin und Psychologie widmen werden. Die Quantentheorie wäre da auch einiges beizutragen bereit.

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