Premiere in Deutschland

Praktisches Jahr im Amt

Das gab es noch nie: Erstmals in Deutschland bietet ein Gesundheitsamt den Wahlabschnitt für das PJ an. Die erste Studentin ist bereits mittendrin, die nächste steht vor der Tür. Was früher undenkbar war, ist die neue Hoffnung der Amtsärzte.

Denis NößlerVon Denis Nößler Veröffentlicht:
Über den Dächern Frankfurts: Professor René Gottschalk (Chef des Gesundheitsamts), Regina Ellwanger (Deutschlands erste PJ-Studentin im ÖGD) und Kathrin Pientka (PJ-Beauftragte).

Über den Dächern Frankfurts: Professor René Gottschalk (Chef des Gesundheitsamts), Regina Ellwanger (Deutschlands erste PJ-Studentin im ÖGD) und Kathrin Pientka (PJ-Beauftragte).

© Nößler

FRANKFURT/MAIN. Pädiatrie vielleicht, oder Gynäkologie. Neurologie wäre nicht schlecht, Dermatologie auch noch in Ordnung. Die Entscheidung für das "richtige" Wahlfach im Praktischen Jahr treibt wohl jeden Medizinstudenten um. Letztlich landen die meisten Studierenden in einem der etablierten Fächer. Aber ins Gesundheitsamt? Niemals.

Und das hat zwei Gründe: Der Job als Amtsarzt ist an den Fakultäten offenbar weithin unbekannt. Und selbst wenn, konnten angehende Mediziner in Deutschland ihr PJ-Wahltertial bislang gar nicht im öffentlichen Gesundheitsdienst absolvieren.

Bis jetzt jedenfalls, denn das Gesundheitsamt in Frankfurt am Main macht möglich, was bisher nicht möglich schien. Die erste Studentin absolviert seit September ihr PJ im Amt - und ist ziemlich begeistert. Die nächste PJ-lerin für das kommende Tertial steht auch schon fest.

"Hier gibt es richtige Wow-Effekte", sagt Regina Ellwanger. Die 26-jährige Studentin von der Frankfurter Goethe-Uni ist nach zwei Wochen PJ überzeugt, sich für das richtige Wahlfach entscheiden zu haben. Im Studium habe es ein Seminar "Globalisierung und Gesundheit" gegeben, sagt sie. "Das war wie für mich gemacht".

Der Abstecher in den ÖGD war also naheliegend. Und keine Stadt scheint dafür besser geeignet zu sein als Frankfurt. In der Bankenmetropole leben Menschen aus 170 Nationen. Vor den Toren der Stadt liegt Europas drittgrößter Flughafen, ein Tor zur Welt, an dem "Globalisierung und Gesundheit" hautnah miterlebt werden können.

Premiere für den ÖGD

Ellwanger ist die große Premiere in Deutschlands öffentlichem Gesundheitsdienst - und zugleich auch dessen Hoffnung. Dass sie ihr Wahlfach gerade jetzt im Amt absolvieren kann, ist auch ein Stückchen Glück. Sie war zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Denn die Idee für ein PJ in seinem Amt hatte Professor René Gottschalk schon lange. Doch erst vor gut einem Jahr sollte es schließlich glücken, dass der Frankfurter Amtschef das bundesweit erste ÖGD-PJ anschieben konnte. Damals sei Professor Robert Sader, der Studiendekan an der hiesigen Uni, zu ihm gekommen und habe gesagt: "Ihr werdet jetzt akademische Lehreinrichtung der Uniklinik", erinnert sich der Amtsarzt, der auch Internist ist.

Gottschalk hat in Frankfurt außerdem einen Hausvorteil, denn er ist außerplanmäßiger Professor an der Universität. Dort unterrichtet er nicht nur über Infektionskrankheiten, sondern auch im Fach Öffentliches Gesundheitswesen. Das ist schon deswegen eine Besonderheit, weil es in der ganzen Republik nicht einen einzigen Lehrstuhl für den ÖGD gibt.

Und natürlich ist es auch Werbung für den Beruf des Amtsarztes. "Wir wollen mit dem PJ vor allem für den ÖGD werben", sagt Gottschalk unumwunden. Er spricht sogar von "Missionstätigkeit". "Wir wollen zeigen, dass wir als Amtsärzte subsidiär tätig sind, wir wollen die jungen Leute für unseren Beruf begeistern."

Und das scheint das Berufsbild dringend nötig zu haben. Denn bundesweit gibt es immer weniger Amtsärzte: Im letzten Jahr waren es 2370, im Jahr 1995 gab es noch knapp 3800 berufstätige Ärzte im ÖGD, ein Minus von 37 Prozent. "Unser Problem im ÖGD ist der Facharztmangel", sagt Gottschalk.

ÖGD ist kein Thema im Studium

Im vergangenen Jahr haben gerade einmal 17 Ärzte einen entsprechenden Facharzt erworben. Die Ursache dafür liegt auch im Finanziellen: Ärzte beim Amt verdienen deutlich weniger als ihre Kollegen im Krankenhaus. Von bis zu 900 Euro weniger ist die Rede.

Der Bundesverband BVÖGD kämpft mit dem Marburger Bund seit Jahren darum, dass die Amtsärzte in den Tarifvertrag für Ärzte aufgenommen werden. Bislang vergebens. Und dann ist ohnehin immer die Rede von "Verwaltungsärzten" - ein Schimpfwort, so empfinden es die Amtsärzte. Selbst manchen ärztlichen Kollegen sei nicht klar, was der ÖGD alles leiste, monieren sie.

Erst recht zeigt sich das aber im Medizinstudium. "Der ÖGD spielt im Studium fast keine Rolle", sagt die junge PJ-lerin Ellwanger. Von den meisten Kommilitonen werde die Arbeit der Amtsärzte nicht wahrgenommen. Ellwanger: "Viele Studierende haben gar keine Vorstellung darüber, was der ÖGD macht."

Die romantische Vorstellung des Weißkittels am Krankenbett oder lebensrettend mit dem Skalpell im Op ist das klassische Ziel von Medizinstudierenden. Das "einzelne ärztliche Handeln" sei der Fokus, meint Ellwanger. Soziologie in der Medizin etwa sei "total verlacht". Und: "Ich habe das Thema ÖGD im Studium schon vermisst."

Freunde mache sie sich mit ihrer Meinung bei den Kommilitonen keine, sagt sie. "Teilweise wurde ich verständnislos gefragt: 'Willst du denn keine Akutmedizin machen?‘" Sie wollte zum ÖGD und ist nun Deutschlands erste Amts-PJ-lerin.

Und hier sieht sie Dinge, von denen ihre Kommilitonen etwa als "Hakenhalter" in der Chirurgie nur träumen können: In Frankfurt kommt Ellwanger auch in der "humanitären Sprechstunde" zum Einsatz. Das Projekt ist eine umfassende hausärztliche Praxis für Bedürftige oder auch Migranten ohne Aufenthaltsstatus und Krankenversicherung.

Im PJ-Logbuch von Frau Ellwanger ist verblüffend oft die Rede von Allgemeinmedizin. Von Verwaltungsärzten also keine Spur. Auch Einschulungsuntersuchungen, Gutachten, Frühe Hilfen, Sozialpsychiatrie, Tuberkulose- und AIDS-Sprechstunden, Reisemedizin und eine Visite in der Flughafenklinik stehen auf Ellwangers Ausbildungsplan.

Mehr Versorgung in Pathologie und Rechtsmedizin?

"Das ist alles medizinische Versorgung. Wir bieten eine unglaubliche Vielfalt", sagt Amtschef Gottschalk. "Wir behandeln hier im Amt viel mehr Patienten als manche Klinik." Seine rund 50 Ärzte haben jedes Jahr allein zu gut 7000 neuen Grundschülern Kontakt.

Worauf Gottschalk hinaus will: In den vergangenen Jahren sind die Amtsärzte bei manchen Prüfungsämtern und Kammern auf taube Ohren gestoßen, wenn sie etwa Famulaturen anbieten wollten. Oft hieß es, der ÖGD mache keine Patientenversorgung, die Tätigkeit dort sei auch nicht klinisch oder praktisch.

Tatsächlich heißt es in Paragraf 3 der Approbationsordnung (ÄApprO), das Wahlfach im PJ soll entweder in der Allgemeinmedizin oder in einem "klinisch-praktischen Fachgebiet" stattfinden. Die Universität soll außerdem eine Ausbildung in den "versorgungsrelevanten Bereichen" sicherstellen.

Aber sind die humanitäre Sprechstunde, die Kinder- und Jugendpsychiatrie oder die AIDS-Sprechstunde etwa keine Versorgung? Amtschef Gottschalk: "Mich wundert es schon, dass ein PJ in der Pathologie oder Rechtsmedizin, wo kaum Patientenkontakt stattfindet, mehr Versorgung sein soll als hier bei uns im Gesundheitsamt."

In Frankfurt zumindest ist die Frage der Versorgung längst zugunsten des Gesundheitsamtes beantwortet. Nicht nur die Universität ist für das ÖGD-PJ, auch die Gesundheitsdezernentin steht laut Gottschalk "voll dahinter".

Für die Amtsärzte auf Bundesebene ist Frankfurt derweil so etwas wie ein Leuchtturm, "kein Projekt", wie Gottschalk betont, denn es habe ja kein zeitlich definiertes Ende, sondern eine Idee, die Nachahmer finden soll. "Das Frankfurter Beispiel sollte bundesweit Schule machen", wünscht sich Dr. Ute-Teichert-Barthel, die Vorsitzendes des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD).

Der Verband will in den Ländern für mehr ÖGD in der Medizinerausbildung werben. Teichert-Barthel: "Der BVÖGD setzt sich dafür ein, in allen Bundesländern Famulaturen und PJ im ÖGD für alle Studierenden zu ermöglichen."

Allerdings wird auch langfristig nicht jedes Amt ein PJ-Wahlfach anbieten können. "Nicht jedes Amt kann natürlich dieses Angebot schnüren, wie wir es jetzt getan haben", sagt René Gottschalk. Viele Ämter kämpften heute schlicht ums Überleben.

Ein Jahr Vorbereitung

Das "Angebot" in Frankfurt ist ohnehin etwas Besonderes für PJ-ler. Pro Tertial soll nur ein Student kommen, vielleicht zwei maximal. Denn die Amtsärzte wollen sich kümmern können, nicht wie in mancher Klinik, wo die Studenten Hilfsarbeiten verrichten.

"Nicht selten werden sie als ;Lückenbüßer‘ eingesetzt", sagt Gottschalk. "Studenten im Praktikum sind nicht dazu da, wie am Fließband 20 Kinder am Tag zu untersuchen. Sie sollen vor allem lernen." Ellwanger und ihre Nachfolger sollen laut Gottschalk "ein breites Spektrum an Tätigkeiten" erleben.

Dafür haben sich die Amtsärzte in Frankfurt schon im Vorfeld viel Zeit genommen. Ein Jahr haben sie geplant, überlegt und ihr Logbuch geschnürt. Gottschalk: "Wir wollten nichts falsch machen und das zarte Pflänzchen nicht zertreten." Kathrin Pientka spricht sogar davon, dass das Angebot des Amts "konzertiert durchgeplant" wurde.

"Das ging bis dahin, dass wir die Urlaubspläne aus den Abteilungen mit dem PJ-Einsatzplan abgeglichen haben", sagt die examinierte Krankenschwester und Diplom-Pflegewirtin, die PJ-Beauftragte im Amt ist. "Wir haben jetzt dafür gesorgt, dass während des PJ immer der betreuende Arzt oder die entsprechenden Abteilungsleiter während der einzelnen Blöcke da sind."

Pientka wünscht sich, dass die Studenten so viel wie möglich im Amt mitbekommen. Die Rechnung scheint aufzugehen: "Ich erlebe viele Dinge hier, die mich interessieren", sagt PJ-lerin Ellwanger. "Die Kollegen im Amt kümmern sich super um einen. Das ist selten so im Krankenhaus."

Aber wird das PJ am Gesundheitsamt in Frankfurt letztlich mehr Ärzte zum öffentlichen Gesundheitsdienst bringen? Die Amtsärzte hoffen das zumindest. Ellwanger will sich jetzt noch nicht festlegen.

Mehr ÖGD in der Weiterbildung

Aber sie hat ein überzeugendes Argument pro Amtsarzt: "Geregelte Arbeitszeiten, wie hier im Amt, sind natürlich ein Faktor." Das künftige Gehalt spiele bei ihrer künftigen Berufswahl "nicht die größte Rolle". Ellwanger: "Der Job muss vor allem sinnvoll sein und Spaß machen."

Auch für ihren Chef Gottschalk ist die Einkommensfrage nicht das größte Problem: "So schlecht sind die Gehälter bei uns zwar nicht, aber die Unterschiede zum Tarifvertrag für Ärzte sind einfach ungerecht." Und: "In der Approbationsordnung steht nicht drin: 'Der Arzt, der der Allgemeinheit dient, verdient weniger.‘"

Womöglich könnten die Amtsärzte aber von den Allgemeinärzten lernen. Ihr Fach wurde in der jüngsten Novelle der Approbationsordnung gestärkt, die Möglichkeit, das Wahltertial in der Allgemeinmedizin abzuleisten, explizit erwähnt.

Die Hausärzte drängen sogar auf noch weitere Reformen. Ulrich Weigeldt, Vorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes, forderte jüngst erneut ein Pflichtquartal Allgemeinmedizin - selbst wenn er sich mit dieser Forderung "Prügel der Medizinstudenten einhole".

Der Bundesverband der Amtsärzte BVÖGD hat die Hoffnung auf Reformen zu seinen Gunsten auch noch nicht beerdigt. Für 2015 steht wieder eine Novelle der Musterweiterbildungsordnung (MWBO) an. Hier sei man noch in der Diskussion, heißt es aus dem Verband.

Und wie wäre es mit einer ÖGD-Pflicht im Studium, während der Famulatur oder im PJ? René Gottschalk ist skeptisch: "Zwang ist keine Lösung." Viel eher könne er sich vorstellen, die Weiterbildungsordnungen in verschiedenen Fächern um einen ÖGD-Teil zu ergänzen. "Weiterbildungsassistenten etwa aus der Psychiatrie oder Pädiatrie könnten ein Jahr ihrer Zeit bei uns verbringen."

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