"Widerspruchslösung ist kein Allheilmittel"

Am 5. Juni, dem "Tag der Organspende", rückt das Thema stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit.

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:
Dieser Pass könnte Leben retten: Ihn besitzen jedoch zu wenige Deutsche.

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HANNOVER. "Richtig. Wichtig. Lebenswichtig." Das ist das Motto zum bundesweiten Tag der Organspende am fünften Juni. Zur zentralen Veranstaltung in Hannover wird Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler (FDP) erwartet. Das Thema Organspende soll stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken - dringend notwendig aus Sicht der Initiatoren: der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), der Selbsthilfeverbände, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und kirchlichen Einrichtungen.

Deutschland rangiert bei den postmortalen Organspendern mit 14,9 pro Million Einwohnern (2009, DSO) im unteren Drittel innerhalb Europas. Spanien liegt mit 34,2 Spendern pro Million Einwohnern (2008) seit Jahren an der Spitze, gefolgt von Portugal (26,7 in 2008), Belgien (25,2 in 2008) und Frankreich (24,7 in 2008). In fast allen europäischen Ländern mit relativ hohen Spenderzahlen gilt die Widerspruchslösung, meist in ihrer erweiterten Form: Eine postmortale Organentnahme ist zulässig, wenn der Verstorbene nicht zu Lebzeiten widersprochen hat und die Angehörigen die Explantation akzeptieren. 

Im Mai hielt nun auch die Mehrheit des 113. Deutschen Ärztetags in Dresden eine Gesetzesänderung mit Einführung der Widerspruchslösung in Deutschland für angezeigt: Das Ärzteparlament stimmte für eine zeitnahe, gesetzliche Neuregelung im Sinne einer Widerspruchslösung mit dem Ziel, die Spenderraten zu erhöhen. "Aus formalen Gründen musste über diesen Antrag in drei Minuten entschieden werden", sagt Dr. Martina Wenker, Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen und Mitglied der Ständigen Kommission Organtransplantation bei der Bundesärztekammer (BÄK). "Eine Änderung des Transplantationsgesetzes von der erweiterten Zustimmungs- zur Widerspruchslösung aber wäre ein echter Paradigmenwechsel. Die Entscheidung, einen solchen Wechsel anzustreben, kann man bei einem so hochsensiblen Thema nicht in drei Minuten treffen. Wir haben zwei wissenschaftliche Symposien zu ethischen und rechtlichen Fragen der Organtransplantation veranstaltet", sagte Wenker.

Diskussion für den Ärztetag wird vorbereitet

Die Ergebnisse würden ebenso wie das Votum des Ärzteparlaments vom BÄK-Vorstand beraten werden. Ziel sei es, auf dieser Basis eine Diskussion für den 114. Deutschen Ärztetag vorzubereiten. Wenker ist gegen die Widerspruchslösung: "Man darf die Menschen in diesem Bereich nicht zu etwas zwingen." Als der Nationale Ethikrat 2007 eine Variante der Widerspruchsregelung vorschlug - der Staat muss jeden Bürger zu einer Erklärung über die Organspende auffordern, bevor Schweigen als Zustimmung zur Organentnahme gewertet wird - habe sich eine breite Front der Ablehnung formiert.

"Die Widerspruchsregelung ist kein Allheilmittel, um Organmangel zu beheben, vor allem dann nicht, wenn die Bevölkerung nicht überzeugt ist", meint auch Professor Günter Kirste, medizinischer Vorstand der DSO. Umfragen zufolge würden nur 37 Prozent der Deutschen eine Widerspruchsregelung befürworten. Auch derzeit gebe es Bundesländer mit mehr als 20 Organspendern pro Million Einwohner, trotz Zustimmungsregelung. 

Statt langwierige politische Debatten anzustoßen, steht für die DSO die Motivierung der Bevölkerung und der Ärzteschaft auf geltender Rechtsgrundlage im Vordergrund. "Die Hausärzte haben eine wichtige Funktion bei der Aufklärung", zitiert DSO-Sprecherin Birgit Blome aus einer 2008 veröffentlichten Umfrage, die die BZgA in Auftrag gegeben hatte. Für 76 Prozent der Bürger ist der Arzt bevorzugter Ansprechpartner für das Thema Organspende, Ehepartner und andere Angehörige nur bei 50 Prozent. 

Allerdings haben nur 57 Prozent der Hausärzte Informationsmaterial zur Organspende in der Praxis ausgelegt, wie eine im vergangenen Jahr publizierte Studie ergab. Im Auftrag des Verbands der privaten Krankenversicherung und der DSO waren 500 hausärztlich tätige Kollegen befragt worden. Elf Prozent gaben an, das Thema häufiger anzusprechen, 61 Prozent redeten vereinzelt mit Patienten darüber, 28 Prozent gar nicht. Neben mangelnder Information und Ängsten der Bürger sahen 71 Prozent der Befragten Wissensdefizite bei den Ärzten als wichtige Ursache für die relativ geringe postmortale Spenderate an.

Pilotprojekt soll Strukturen optimieren

Vermutlich verdoppeln ließe sich die postmortale Spende, wenn alle potenziellen Spender in den Kliniken erkannt und gemeldet würden, so das Ergebnis einer früheren Studie der DSO. Nun nehmen mehr als 100 von 151 Universitätskliniken und Krankenhäuser mit neurochirurgischen Intensivstationen an einem Pilotprojekt zur Optimierung der Strukturen für die Organspende teil. Bei der Koordination nach spanischem Vorbild werden Aufgaben der DSO und der Klinikmitarbeiter enger miteinander verzahnt. Innerhalb von zwei Jahren wird evaluiert, ob das Modell für Deutschland sinnvoll wäre und wenn ja, wie. Zur Zeit sterben täglich drei Patienten auf der Warteliste für ein Organ. Die Ablehnungsrate von Organspenden durch Angehörige liegt bei 35 bis 40 Prozent.

Lesen Sie dazu auch: Tag der Organspende: BÄK fordert Beauftragte an allen Kliniken

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