Hintergrund

Darf man Hirntoten die Organe wegnehmen?

Endet das Leben wirklich mit dem Hirntod, oder könnten Menschen danach womöglich weiter leben? Neue Studien werfen erhebliche Zweifel auf - und treiben die Ethiker um.

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:
Sind Hirntote wie schwer Bewusstlose zu behandeln?

Sind Hirntote wie schwer Bewusstlose zu behandeln?

© Andrea Danti / fotolia.com

"Wenn der Hirntod noch nicht der Tod des Menschen ist, sondern ein Sterbeprozess, dann kann man Organe nicht entnehmen. (...) Denn dann würden wir töten. Selbst im letzten Stadium des Lebens und selbst für einen anderen Menschen können wir das nicht tun."

So beschrieb der Pionier der Transplantationsmedizin Professor Rudolf Pichlmayr in den 90er Jahren die Haltung der deutschen Ärzteschaft zur Frage, wann eine Entnahme von Organen zulässig sein soll.

Der Auffassung hat sich der Gesetzgeber angeschlossen: Der Tod, so heißt es im Gesetz, muss nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft festgestellt sein.

Der Hirntod, definiert als irreversibler Ausfall der gesamten Hirnfunktion, ist als Mindestkriterium und damit als entscheidende Diagnose für die Feststellung des Todes im Gesetz festgelegt.

Nun wird das Gesetz novelliert. Bei der parlamentarischen Diskussion darüber ist die Bewertung des Hirntodkonzepts zwar nur von untergeordneter Bedeutung.

Gemeinsam Antworten finden

Gleichwohl ist die Frage, ob die Kompetenz für die Definition des Todes, die mit dem Ende des Lebens auch das menschliche Leben selbst definiert, ausschließlich bei Medizin und Naturwissenschaften liegt, in den vergangenen Jahren wieder aufgeflammt.

Der Deutsche Ethikrat hat das Thema im Forum Bioethik vor Kurzem in Berlin aufgegriffen. Das Gremium hatte Philosophen und Naturwissenschaftlern gefragt, ob eine Organentnahme von Hirntoten vor dem Hintergrund neuer Forschungsbefunde legitim sei.

Die zweite Frage war, ob die Regel "Organentnahme nur von Toten" (dead-donor-rule), wie sie vom Gesetz und der Ärzteschaft mit Ausnahme der Lebendspende gefordert wird, eine unabdingbare Voraussetzung für die Organspende bleiben soll.

Der Philosoph Professor Michael Quante von der Universität Münster sieht diese Fragen nicht ausschließlich an Naturwissenschaftler und Mediziner gerichtet. Naturwissenschaft und Naturphilosophie müssten nach einem gemeinsamen Begriff des Todes suchen, betont er.

Dabei gelte es, Kriterien für den Tod des Menschen festzulegen, bei denen selbstverständlich medizinische Erkenntnisse große Bedeutung hätten. Die dead-donor-rule aufzugeben, hält Quante für ethisch problematisch und mit dem Selbstverständnis der Ärzte kaum vereinbar.

Eine auch in Deutschland gängige Begründung für das Hirntodkonzept ist, dass das Gehirn an der Integrationsleistung der Organe den größten Anteil habe. Der Neurologe Professor D. Alan Shewmon von der University of California in Los Angeles widerspricht dieser Vorstellung, auch auf Basis eigener Befunde.

Chronischer Hirntod

Shewmon hatte in den 90er Jahren 175 Fälle von "chronischem" Hirntod beschrieben: Bei künstlicher Beatmung hatte es nach diagnostiziertem Ganzhirntod bis zum Herz-Kreislaufstillstand und deutlichem körperlichem Verfall teilweise mehrere Wochen gedauert (Neurology 1998; 51: 1538).

Die Sonderstellung des Gehirns werde überschätzt, so Shewmon. "Es sind die Interaktionen der Organe, die diese Integrationsleistung bewirken und für deren Funktion der Blutkreislauf am wichtigsten ist, nicht das Gehirn", sagte der Neurologe.

Für ihn sind hirntote Menschen noch am Leben, auch wenn sie schwerst geschädigt und auf medizinische Unterstützung angewiesen seien.

Die Meinung des international renommierten Forschers dürfte den US-Bioethikrat mitbeeinflusst haben, auf dessen Stellungnahme 2008 sich auch der Deutsche Ethikrat bezog.

"Wenn Leben so definiert wird, dass ein Organismus mehr sein muss als die Summe seiner Teile, lässt sich kaum bestreiten, dass manche hirntote Menschen noch leben könnten", gibt die Stellungnahme des US-Bioethikrats die Diskussion in seinem Gremium wider (The President's Council on Bioethics. Letter of Transmittal to the President of the United States, 2008).

Weiterhin ein gutes Kriterium

"Hirntote haben Eigenschaften von toten und von lebenden Menschen", konstatierte der Philosoph Professor Ralf Stoecker von der Universität Potsdam in Berlin. Die Gesellschaft müsse die Frage beantworten, wie mit Hirntoten umzugehen sei.

Er halte es für gerechtfertigt, ihnen angesichts irreversibler Bewusstlosigkeit, einer fehlenden Perspektive und der Tatsache, dass sie keine Schmerzen und Leiden empfinden könnten, Organe für die Transplantation entnehmen zu dürfen, wenn eine Zustimmung vorliege.

Unter dem Aspekt der Menschenwürde seien Hirntote wie schwer Bewusstlose zu behandeln. Ähnlich wie der US-Neurologe und Medizinethiker Professor Robert Truog von der Harvard Medical School in Boston hält Stoecker es nicht für notwendig, an der dead-donor-rule festzuhalten.

Privatdozentin Stefanie Förderreuther von der Ludwig-Maximilians-Universität München machte deutlich, dass sich zwar nicht der Todeszeitpunkt, wohl aber der irreversible Ausfall der gesamten Hirnfunktion medizinisch sicher feststellen lasse.

Der Hirntod sei das Endstadium von sehr schweren strukturellen Schädigungen von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm, so die Neurologin. Diese Diagnose eigne sich nach wie vor besonders gut für die Feststellung des Todes, so wie es auch bislang Praxis sei.

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