Chaos Notaufnahme?
Jeder zweite Patient kein echter Notfall
Viele Notfallaufnahmen an Kliniken ächtzen unter steigendem Zulauf. Gut jeder zweite unter den Patienten gehört aber ambulant versorgt. Für Entlastung könnte vor allem eine Sache sorgen.
Veröffentlicht:BERLIN. Laut Bundesärztekammer verzeichnen niedergelassene Arztpraxen jedes Jahr durchschnittlich rund 550 Millionen vertragsärztliche Behandlungsfälle. Im Vergleich dazu erscheinen jene geschätzten 20 Millionen Menschen wenig, die pro Jahr in Notfallaufnahmen an Kliniken behandelt werden. Was Notfall-Mediziner jedoch Sorgen bereitet, ist der Ausblick.
Um durchschnittlich fünf Prozent sind die Patientenzahlen in den Notfallaufnahmen an den Kliniken in den letzten Jahren gestiegen. Setzt sich dieser Trend fort, kann es eine effiziente Versorgung in Zukunft deutlich beeinträchtigen.
Zwar sorgen die Notfall-Einrichtungen mit einem Triage-System dafür, die Dringlichkeit der Behandlung schnell einzuschätzen und entsprechend abzuarbeiten. Dennoch binden die hohen Patientenzahlen schon jetzt Ressourcen, die eingelieferte Akutkranke und Schwerverletzte benötigen.
Für etwa jeden zweiten Patienten reiche eine ambulante Versorgung völlig aus, schätzt die Deutsche Gesellschaft für interdisziplinäre Notfall-Medizin.
"Nehmen die unechten Notfälle überhand, besteht die Gefahr, dass sich der Behandlungsbeginn bei den echten Notfällen verzögert", warnt Professor Michael Wenzl vom Verband der leitenden Orthopäden und Unfallchirurgen. Wie also lassen sich die Patienten besser steuern und verlässlich versorgen?
Vielerorts sind die Zeiten vorbei, als Namen und Rufnummern der Bereitschaftsärzte in der Tageszeitung veröffentlicht wurden. Dass es seit 2012 eine bundesweit einheitliche Rufnummer für den ärztlichen Bereitschaftsdienst gibt, scheint - trotz Flyer, Website und Kampagne - bei vielen Patienten nicht angekommen zu sein.
Gut jeder zweite Patient gab in einer Berliner Befragung an, keine Alternative zu einer Notfallbehandlung im Krankenhaus zu kennen. Knapp 60 Prozent erklärten ein ambulantes Angebot der Ärzte nutzen zu wollen, falls es so etwas gäbe.
Patienten wollen Wartezeiten vermeiden
Vielleicht hat die Zentralisierung in der Organisation des ärztlichen Bereitschaftsdienstes aber auch dazu geführt, dass die Patienten aus dem direkten Kontakt zum niedergelassenen Arzt erst recht ausgestiegen sind.
Während sich früher der diensthabende Arzt leibhaftig am Telefon meldete, landet der Anrufer heute in einer Leitstelle. Mancher Patient - gerade wenn er sich um seine Gesundheit sorgt - dürfte diese Ansprache als zu unpersönlich empfinden.
Schließlich hatten 63 Prozent der Patienten, die die zwei Notfallaufnahmen in Berlin von sich aus aufsuchten und dort befragt worden waren, erst gar nicht versucht, zuvor einen niedergelassenen Arzt zu kontaktieren.
Und gut ein Drittel derjenigen, die außerhalb der regulären Öffnungszeiten von Arztpraxen in Kliniken vorstellig wurden, wollten damit lange Wartezeiten vermeiden. Dass die Berliner in Sachen Notfallbehandlung nicht Bescheid wüssten, kann man bei der KV Berlin nicht glauben.
"Der ärztliche Bereitschaftsdienst ist weit bekannt", sagt Susanne Roßbach von der KV Berlin. Die Raten der Inanspruchnahme seien stetig gestiegen. Nahezu 200.000 Kontakte verzeichneten die niedergelassenen Ärzte im vorigen Jahr.
Das Aufsuchen des an den Krankenhäusern angesiedelten "Notfalldienst" erfolge, so Roßbach, zum einen aus Bequemlichkeit, zum anderen aus der Selbsteinschätzung der Patienten.
In der Tat glaubten nahezu 90 Prozent der in Berlin befragten Patienten, dringend behandlungsbedürftig zu sein. Gut die Hälfte wollte so schnell wie möglich untersucht werden, knapp 40 Prozent noch am selben Tag.
Wer mag angesichts dieser Unsicherheit schnell entscheiden, wer ein echter Notfall ist und wer nicht? Dringend nötig ist es daher, die Patienten intensiver in Gesundheitsfragen aufzuklären, umfassender zu informieren und wirklich jeden Patienten in das Versorgungssystem mitzunehmen.
Denn, wie gut die Patienten durch Notfallaufnahme und Bereitschaftsdienst gelotst werden, ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch ein Prüfstein für eine gute Versorgung.
Sektorenübergreifende Steuerung ist nötig
Die Gesundheitspolitik setzt indes auf die Portalpraxen, die die Kassenärzte an Kliniken einrichten und außerhalb der eigenen Praxiszeiten betreiben sollen.
Es ist sicherlich richtig, dass die Akteure in der Notfallbehandlung sektorenübergreifend zusammenrücken müssen.
Ob die Portalpraxen jedoch die Patientenströme zwischen Bereitschaftsdienst und Klinik besser steuern werden, bleibt abzuwarten.
Die Kassenärzte fürchten zu Recht, dass der Trend befördert wird und die Kliniken weitere Patienten anziehen, die ambulant bestens versorgt wären.
Ohne die Patienten aufzuklären, ihnen grundlegendes Gesundheitswissen zu vermitteln und am besten einen kundigen Hausarzt an die Seite zu stellen, wird das Konstrukt nicht funktionieren.