"Skandalarzt" von Heilbronn

Wieviel Schuld tragen Klinik und Kammern?

Niederländische Medien titulierten ihn als "Horrorarzt": Dem Neurologen Dr. Ernst J.S. droht dort der Prozess wegen schwerer Körperverletzung. Trotzdem konnte ungehindert in deutschen Kliniken arbeiten. Wer hat versagt?

Von Ingeborg Bördlein Veröffentlicht:
Im Klinikum Heilbronn hat der in den Niederlanden wegen Körperverletzung angeklagte Arzt zuletzt gearbeitet.

Im Klinikum Heilbronn hat der in den Niederlanden wegen Körperverletzung angeklagte Arzt zuletzt gearbeitet.

© dpa

HEILBRONN. Wie ist es möglich, dass ein Neurologe aus den Niederlanden, der sich in seinem Heimatland wegen schwerer Körperverletzung in mehr als 21 Fällen, zum Teil mit Todesfolge und anderer schwerer Vergehen vor Gericht verantworten muss, gleichzeitig ungehindert als "beliebter und anerkannter" Arzt in deutschen Kliniken arbeiten kann?

Diese Frage stellen sich hierzulande nicht nur Patienten und Ärzte, nachdem immer mehr Details aus dem Berufsleben des holländischen "Horrorarztes", wie er in den niederländischen Medien genannt wird, bekannt werden. Als Reaktion darauf, wird der Ruf nach einem ein Frühwarnsystem laut.

Seit November läuft gegen den heute 67-jährigen Arzt Dr. Ernst J.S. in seiner Heimat ein Strafprozess, der von der Staatsanwaltschaft in Amsterdam als "einer der größten Medizinprozesse in der Geschichte der Niederlande" gewertet wird.

Die Liste der ihm vorgeworfenen Straftaten ist lang und für die vermutlich fast 200 geschädigten Patienten desaströs.

So soll der Neurologe zwischen 1998 und 2003 in einer Klinik in Enschede bei Patienten fälschlicherweise Alzheimer, Parkinson und MS diagnostiziert und sie mit nebenwirkungsreichen Medikamenten therapiert haben.

Op ohne Indikation

Ihm werden neun Todesfälle wegen Falschdiagnosen zur Last gelegt, darunter auch ein Selbstmord nach der Falschdiagnose "Alzheimer". Auch sollen 13 Menschen aufgrund seiner Fehldiagnosen ohne medizinischen Grund am Gehirn operiert worden sein.

Dazu kommen Rezeptfälschungen und Geldunterschlagung. Im Jahre 2003 war der Neurologe wegen seiner Medikamentenabhängigkeit aus dem Enscheder Klinikum entlassen und dazu bewegt worden, seine Approbation in den Niederlanden zurückzugeben, was er 2006 auch getan hat. Ein Disziplinarverfahren wurde allerdings nicht eingeleitet.

Seine Tätigkeit als Arzt verlegte er fortan nach Deutschland. Noch im Dezember 2005 hat er seine Zulassung bei der Bezirksregierung im westfälischen Arnsberg unter Vorlage seiner Universitätsabschlüsse beantragt und diese sowie die Facharztanerkennung 2006 erhalten.

Es sei damals eine Unbedenklichkeitsbescheinigung aus den Niederlanden angefordert und diese in deutscher Übersetzung von Dr. Ernst J.S. auch vorgelegt worden, teilte ein Behördensprecher mit.

Mit der deutschen Approbation in der Tasche arbeitete der Skandalarzt - über Ärzte-Agenturen vermittelt - nun als Assistenzarzt auf neurologischen Stationen in mehreren deutschen Kliniken: Bis 2009 in der Bad Laaspher Schlossbergklinik im Sauerland, danach 2010 einige Monate in den Mittelweser Kliniken in Nienburg.

Schon in zwei Kliniken Kündigung

Sein Job wurde ihm in beiden Kliniken gekündigt, nachdem die Klinikleitungen über Journalisten aus den Niederlanden von "früheren Unregelmäßigkeiten im Berufsleben des Arztes" erfahren hatten.

Danach arbeitete er mehrere Monate am Klinikum Worms als Honorararzt und seit Beginn des vorigen Jahres bis zu seiner sofortigen Entlassung nach Bekanntwerden der Vorwürfe in der vergangenen Woche am SLK-Klinikum in Heilbronn.

Dort ging die Bombe hoch, als niederländische Journalisten auf den strafverfolgten Arzt aufmerksam wurden. Ob auch deutsche Patienten zu Schaden kamen, wird nun in aufwendigen Überprüfungen der Krankenakten zu klären sein.

Allein am Wormser Klinikum sind laut Klinikumsleitung bis zu 600 Patientenakten zu prüfen, in Heilbronn wird die Zahl nicht geringer sein. Die Sichtung haben Experten der Neurologischen Klinik der Universität Heidelberg übernommen.

Mit ersten Ergebnissen wird frühestens in zwei Wochen gerechnet., da aufgrund der datenschutzrechtlichen Anforderungen die Akten anonymisiert werden müssen.

Als Assistenzarzt unter Aufsicht

In den betroffenen Kliniken wird davon ausgegangen, dass der Arzt dort keine Patienten geschädigt hat, weil er als Assistenzarzt stets unter Aufsicht gewesen sei. Allerdings haben sich bereits zwei Patienten gemeldet, die sich nach der Behandlung durch Dr. Ernst J.S. geschädigt fühlen.

Eine Patientin klagt über wochenlange Beschwerden nach einer Lumbalpunktion. Die Heilbronner Staatsanwaltschaft ermittelt inzwischen gegen den Arzt. Das Regierungspräsidium in Stuttgart prüft als Konsequenz aus den Ermittlungen das Ruhen oder den Widerruf seiner Approbation.

Der Fall hat dazu geführt, dass EU-weit und auch innerhalb Deutschlands ein besserer Informationsaustausch gefordert wird, um vor schwarzen Schafen in Weiß frühzeitig warnen zu können.

Ein solches Frühwarnsystem fordert etwa der Marburger Bund-Chef Rudolf Henke und bekräftigt damit einen Vorstoß des EU-Parlaments: Die EU-Staaten sollten ein zentrales Ärzteregister führen und sich gegenseitig darüber informieren, wenn ein Arzt beispielsweise in einem Land strafrechtlich verfolgt wird und seine Zulassung verliert.

Der Informationsaustausch auf europäischer und deutscher Ebene zwischen den Behörden sei noch sehr unterentwickelt, so die Kritik. So müssten Landesministerien und Ärztekammern in der Lage sein, Auskunft über Problemfälle geben zu können.

Das Sozialministerium Baden Württemberg will ein Melderegister auf europäischer und deutscher Ebene auf den Weg bringen.

Auch Christoph Siegmann, der Geschäftsführer der Berliner Ärzteagentur "Doctari", die den Skandalarzt nach Heilbronn vermittelt hat, wünscht sich zeitnahe und praktikable Informationen seitens der Ärztekammern, wenn ein Arzt eindeutig auffällig geworden sei.

Er fordert aber auch eine bessere Zusammenarbeit unter den Agenturen, um das "Agentur-Hopping "zu verhindern. Verliere ein Arzt beispielsweise seine Approbation durch Medikamenten- oder Alkoholmissbrauch, so könne er einfach Agentur und Auftraggeber wechseln und weiter tätig sein.

Dagegen gab der Sprecher der Landesärztekammer Baden-Württemberg, Oliver Erens zu bedenken, dass es sich um Einzelfälle handele, die es mit entsprechender krimineller Energie immer wieder schafften, auch im medizinischen Bereich, "ihr Unwesen zu treiben".

Dies dürfe aber nicht zu Überwachungsmaßnahmen wie in einem Polizeistaat führen.Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz in Dortmund kritisiert die abwartende Haltung der Klinikleitung in Heilbronn, die nach eigenen Angaben bereits 2011 von dem Verfahren in den Niederlanden gegen den Arzt erfahren hatte

"Wenn der Arzt einen Patienten im SLK-Klinikum geschädigt hat, und die Vorwürfe aus den Niederlanden dort seit 2011 bereits bekannt waren, dann macht sich die Klinikleitung strafbar wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen", sagte er in einem Interview mit der "Heilbronner Stimme".

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