Ein Wiedersehen nach mehr als 25 Jahren

Hausärzte verlieren junge Patienten aus den Augen, sobald diese wegen Studium oder Job wegziehen. Doch die Patienten erinnern sich noch lange an ihren Doktor. Dabei ändert sich in über 25 Jahren viel in einer Praxis: Ein Besuch bei Dr. Hermann Schiel, ohne Versichertenkarte, aber mit Notizblock.

Von René Schellbach Veröffentlicht:
Früher blätterte Dr. Hermann Schiel beim Diagnosegespräch in Fachbüchern, heute nutzt er das Internet. © res

Früher blätterte Dr. Hermann Schiel beim Diagnosegespräch in Fachbüchern, heute nutzt er das Internet. © res

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SCHWÄBISCH HALL. "Was wollen Sie denn über mich schreiben? Ich bin doch gar nichts Besonderes", fragt Hermann Schiel am Telefon. Die Stimme klingt vertraut, so ruhig wie damals vor über 25 Jahren. Ein Bericht in der Zeitung? Da bittet der Doktor um etwas Bedenkzeit. Schließlich bekomme ich doch einen Termin.

Stylish ist die Praxis nicht. Im Wartezimmer recken sich zwei schüttere Hydrokulturpflanzen dem Licht entgegen. Acht Metallrohrstühle mit brauner Plastiksitzfläche. "Gala", "Stern" und "Spiegel" türmen sich auf dem Tisch. An den Wänden fast nur Plakate: Depression, Rauchfrei, Pollenflugkalender. Auf der Fensterbank ein paar Info-Faltblätter, an der Garderobe ein Schaukelpferd. Für die Kleinen gibt es nebenan eine Spielecke.

Diktiergerät? Heute wird alles gleich in den PC getippt

Auf dem Flur die vertraute Stimme des Doktors. Er kommt um die Ecke, sehr verändert hat er sich: Nicht mehr der Jungmediziner mit Bart, sondern der seriöse Arzt im weißen Kittel mit angegrauten, gelichteten Haaren. Im Januar 1977 hat er die Praxis übernommen; der Vorgänger war einige Monate zuvor, kurz vor dem Ruhestand an Herzinfarkt gestorben.

Bei seinen Diagnosen zupfte Hermann Schiel sich damals immer nachdenklich am Bart, blätterte in Fachbüchern und sprach dann in sein Diktiergerät. "Heute schauen wir ins Internet", sagt er und deutet auf seinen etwas älteren PC auf dem Schreibtisch.

Warum sich der Arzt für Schwäbisch Hall entschied? Er kannte die Gegend im Nordosten Baden-Württembergs vom Wandern. Geboren im Erzgebirge, aufgewachsen in Stuttgart, studierte Schiel in Würzburg und an der Heidelberger Außenstelle in Mannheim. Als Assistenzarzt ging er dann bereits ans Diakonie-Krankenhaus in Schwäbisch Hall.

Mit 700 Patienten startete seine Praxis, heute kommen rund 1300 im Quartal. Die Schnellhefter von damals verwendet Schiel heute noch, inzwischen ergänzt durch Dateien im Computer. Dabei erlebte die Praxis in den neunziger Jahren tiefe Einschnitte. Sie liegt im Stadtteil Hessental, in dem eine neue Siedlung hochgezogen wurde. Ab 1992 zogen hier viele Aussiedler aus Russland hin. Nachdem die Amerikaner 1993 die angrenzende Kaserne Camp Dolan verlassen hatten, richtete der Landkreis eine Asylbewerber-Unterkunft ein. Plötzlich kamen Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien. Das ist vorbei, aber die Aussiedler aus Russland blieben und machen heute mindestens ein Drittel der Patienten aus. Hermann Schiel beschäftigt zwei Arzthelferinnen halbtags und hat zwei Azubis. "Sie sprechen alle russisch", erzählt er. Sie übersetzen bei der Behandlung oder erklären die Medikamente. Seine Frau hilft stundenweise.

"Die jungen Deutschrussen kommen besonders häufig", so seine Erfahrung. "Soziale Probleme, Alkohol, das ganze Programm. Dabei bin ich gar kein Sozialarbeiter. Einige von denen sind wirklich begabt, aber es fehlt die Perspektive." Schiel erwarb 2001 die Zulassung zur Substituierung Suchtkranker mit Ersatzstoffen.

Diese sei für niedergelassene Ärzte am besten durchführbar mit maximal acht bis zehn Abhängigen, schreibt der Landkreis Schwäbisch Hall auf seiner gerade freigeschalteten Website www.suchthilfe-sha.de. Dies sei im Kreis nicht möglich, so Schiel, da zu wenige Ärzte dazu bereit sind. Es gibt keine Schwerpunktpraxis. Schiel behandelt daher viel mehr Abhängige, mag die Zahl aber nicht nennen. Deren Behandlung rechnet er direkt mit den Kassen ab. Das Honorar dafür sei "recht gut", die Behandlung jedoch teilweise verbunden mit viel Zeitaufwand.Arztkollegen beneiden Hermann Schiel nicht; sie berichten von Patienten, die zu ihnen abgewandert sind. "Attraktiv ist das sicher nicht für einen Nachfolger", sagt er, obwohl die Praxis in einem geschlossenen Bezirk liegt.

Regresse blieben der Praxis bislang erspart

In drei Jahren, mit 66, will er sich zur Ruhe setzen und endlich reisen. Ob eines seiner sechs Kinder die Praxis übernimmt, ist offen. Zwei haben Medizin studiert. "Aber ich werde sie nicht unter Druck setzen."

Warum ist er Arzt geworden? "Ich fand Medizin schon in der Schulzeit spannend, und es war natürlich auch ein wenig Helfer-Syndrom." Inzwischen teilt er den Ärger vieler Kollegen über die Bürokratie. Regress-Forderungen der KV hatte er nicht. Die Praxis sei gut ausgelastet, Mund-zu-Mund-Propaganda genüge, eine Website brauche er nicht. Auf Privatpatienten kann er jedoch nicht bauen. IGeL bringen kaum etwas ein, außer ein wenig Reiseberatung. Kann man auch ohne Private überleben? "Es ist in den letzten drei, vier Jahren etwas besser geworden." Beim Hausarztmodell ist Schiel jedoch nicht mit dabei: "Ich will nicht von einer Kasse abhängig werden." Draußen warten schon die nächsten Patienten. Zur Verabschiedung sagt Hermann Schiel noch: "Sie sehen: Nichts Besonderes."

Praxis Dr. Hermann Schiel

Der Chef: Dr. Hermann Schiel ist seit 1977 Allgemeinarzt in Schwäbisch Hall. Seit 2001 ist Schiel zugelassener Arzt zur Methadonvergabe

Lage: Zentral in Hessental (6000 Einwohner), einem Stadtteil von Schwäbisch Hall (36 000 Einwohner) im Nordosten Baden-Württembergs

Das Praxisteam: Zwei Arzthelferinnen halbtags, zwei Auszubildende, die Ehefrau arbeitet stundenweise mit

Praxis-EDV: Eva-Software

Praxisbesonderheiten: wenige IGeL (v.a. Reiseberatung), kaum Privatpatienten, keine Teilnahme am Hausarztmodell

(res)

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