Verwahrlostes Depot
Patientenakten-Chaos in Immelborn
Eine Archivierungsfirma in Thüringen übernimmt für Arztpraxen die Lagerung von Patientenakten - und geht vor Jahren pleite. Seitdem vermodern rund 250.000 Ordner im verlassenen Depot. Vom Geschäftsführer fehlt jede Spur, der Datenschutzbeauftragte des Landes ist entsetzt.
Veröffentlicht:IMMELBORN. Es herrscht das pure Chaos: Hunderte Aktenordner liegen am Boden, dazwischen Scherben, Unrat, ungeöffnete Briefe.
Stromkabel wurden aus der Wand gerissen, Fenster eingeschlagen und die Luft riecht modrig.
Die Zustände in der Aufbewahrungsfirma "Ad Acta" in Immelborn (bei Eisenach) sind für Lutz Hasse ein einziges Datenschutzdesaster.
"Rund 250.000 Ordner werden es wohl sein, aber das ist nur grob geschätzt", sagt Thüringens oberster Datenschützer. Erst ein kleiner Teil ist gesichtet, ein zentrales Register fehlt.
Auch ausgelagerte Archive von Arztpraxen wurden entdeckt. Besonders heikel, findet Hasse, denn bei medizinischen Akten gelten Aufbewahrungsfristen von bis zu 30 Jahren.
Auf drei Etagen stapeln sich meterhohe Aktengebirge. Unter dem Dach erstreckt sich ein selbst gebautes Labyrinth aus verklebten Kartons unsortierter Ordner.
"Passen Sie auf, es besteht Gefahr, erschlagen zu werden", warnt Hasse bei einer Vorort-Begehung.
Depot verwahrlost seit Jahren
Erst im Juli kam der Immelborn-Fall durch einen Tipp ans Tageslicht. Doch das Depot verwahrlost seit Jahren.
Laut Handelsregister ging die Firma vor fünf Jahren pleite. Im Büro des ehemaligen Geschäftsführers sieht es wüst aus. Leere Weinflaschen, umgefallene Stühle, benutzte Kaffeetassen - über allem liegt eine dicke Schmutzschicht.
Notdürftig ließ Hasse Türen und Fenster verbrettern. Gegen den Geschäftsführer wird nun ermittelt, doch die Spuren verlieren sich in der Schweiz.
Weil schwere Verstöße gegen den Datenschutz vorliegen, hat Hasse nun ein Problem: Als zuständige Behörde muss er alle Akten sichten und ihre Besitzer ausfindig machen - eine Herkulesaufgabe.
Die Firma wurde 1993 gegründet, manche Akten datieren noch aus DDR-Zeiten. Auf einem Ordner steht Robotron.
So wie das DDR-Kombinat werden viele Firmen nicht mehr existieren, fürchtet er. Vor allem Insolvenzverwalter, Ärzte und große Firmen haben in Immelborn ihr Archiv ausgelagert - zum Teil sensible persönliche Daten.
Jede Akte muss angeschaut werden
Er könne auch nicht einfach gegen den Akten-Tsunami anschreddern, meint Hasse. Vernichten darf er die Papiere nur, wenn die Aufbewahrungsfristen abgelaufen sind, in der Regel zehn Jahre, mitunter auch länger.
Um das zu prüfen, muss jede Akte einzeln in die Hand genommen werden. Dann sind an erster Stelle die Besitzer verpflichtet, die Ordner abzuholen und zu verwahren.
"Manche glauben, der Vertrag mit einer Aufbewahrungsfirma entbindet sie von den datenschutzrechtlichen Pflichten. Doch der Eigentümer bleibt immer in der Verantwortung", erklärt Hasse.
Auch bei der Landesärztekammer haben sich Betroffene wegen ihrer Akten in Immelborn gemeldet, erklärt Sprecherin Ulrike Schramm-Häder. "Wir mussten sie an den Datenschutzbeauftragten verweisen. Er ist jetzt zuständig."
Laut ärztlicher Berufsordnung sei die Archivierung durch Firmen erlaubt und auch sehr verbreitet, sagt Schramm-Häder. "Jeder Arzt sollte sich jedoch im Vorfeld persönlich davon überzeugen, dass es sich um eine halbwegs vernünftige Firma handelt."
80.000 Ordner bereits gesichtet
Rund 10.000 Ordner wurden bereits zurückgeführt, weitere 80.000 Ordner schon gesichtet und die Eigentümer ermittelt. Ein mühsames Unterfangen.
Der Aufwand übersteige die Kapazitäten seiner 16 Mitarbeiter, sagt Hasse. Deshalb bat er die Polizei um Amtshilfe. "Mein Ersuchen wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, die Polizei könne sonst ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen."
Das Innenministerium habe ihm geraten, die Arbeit durch Dritte erledigen zu lassen. Doch das lehnt er ab: "Das wäre eine Privatisierung der Gefahrenabwehr. Ich halte die Polizei mittlerweile allein für zuständig."
Inzwischen hat der Streit den Landtag erreicht. Momentan scheint Immelborn ein Einzelfall zu sein. "Das Problem ist meines Erachtens nach nicht flächendeckend, aber es soll schwarze Schafe geben", sagt Hasse.
Problematisch sei einerseits die teils unklare Rechtslage zur ordnungsgemäßen Archivierung, zum anderen stehe die Branche unter Kostendruck.
Üblich seien 1,25 Euro pro Aktenmeter, etwa 12,5 Cent pro Ordner, sagt Claudia Felten vom Verband Organisations- und Informationssysteme (VOI): "Aktenverarbeitung ist teuer, das unterschätzen viele."
Hasse plant deshalb einen Runden Tisch mit Archivierungsfirmen, um eine rechtliche Orientierungshilfe zu erarbeiten.