Impfschaden?
EuGH stärkt Patienten-Position
In Sachen Produkthaftung können Impfstoff- und Arzneimittelhersteller im Ernstfall nicht auf wissenschaftliche Kausalitätsbelege pochen. Laut EuGH reichen ernsthafte Indizien aus, um die Beweislast zugunsten eines geschädigten Patienten umzukehren.
Veröffentlicht:LUXEMBURG. Die Produkthaftung für Arzneimittel ist nicht auf Fälle begrenzt, in denen es klare medizinische Belege für gesundheitliche Folgeschäden gibt. "Bei fehlendem wissenschaftlichen Konsens" können auch "klare und übereinstimmende Indizien" ausreichen, konkret etwa die Häufung von Schäden nach einer Impfung, urteilte am Mittwoch der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Das Urteil war EU-weit mit Spannung erwartet worden. Bezüglich der Impfstoffe ist es auf Deutschland allerdings nur auf Impfungen übertragbar, die nicht ausdrücklich von der STIKO empfohlen werden.
Hier hatte ein Patient in Frankreich geklagt. 1998 und 1999 hatte er insgesamt drei Impfungen gegen Hepatitis B bekommen. Kurz nach der letzten Impfung traten Beschwerden auf. Es stellte sich heraus, dass es sich um eine Multiple Sklerose handelt. Der Gesundheitszustand des Mannes verschlechterte sich rasch, er starb 2011.
Indiziennachweis reicht
Familienangehörige führten das Verfahren gegen den Hersteller fort. Sie behaupten, die MS sei durch den Impfstoff verursacht worden. Die französischen Gerichte wiesen die Klage jedoch zunächst ab. Für eine MS als Folgeschaden einer Hepatitis-Impfung gebe es keine wissenschaftlichen Nachweise.
Vor dem Kassationsgerichtshof in Paris machten die Angehörigen geltend, nach französischem Recht sei die Impfung als Ursache eines Schadens dann anzunehmen, wenn ein enger zeitlicher Zusammenhang besteht und es zudem keine familiäre Vorbelastung gibt. Der Kassationsgerichtshof legte den Streit dem EuGH vor. Der bestätigte nun, dass Produktfehler "bei fehlendem wissenschaftlichem Konsens durch ein Bündel ernsthafter, klarer und übereinstimmender Indizien bewiesen werden" können. Die französische Beweisregel sei daher im Grundsatz zulässig.
Nach dem Luxemburger Urteil führen solche Indizien zu einer Umkehr der Beweislast: Sie reichen für den Geschädigten zunächst aus, für den Hersteller bleibt aber die Möglichkeit eigener Beweisführung, dass hier der Impfstoff eben nicht die Ursache der Folgeerkrankung gewesen sein kann. Zur Begründung seines Urteils verwies der EuGH auf das Ziel des EU-Produkthaftungsrechts "einer gerechten Verteilung der mit der modernen technischen Produktion verbundenen Risiken zwischen dem Geschädigten und dem Hersteller".
In Deutschland zahlt ein Fonds
Würde bei Arzneimitteln nur ein "auf medizinischer Forschung beruhender sicherer Beweis" zugelassen, würde "die Inanspruchnahme der Haftung des Herstellers übermäßig schwierig". Der EuGH betonte allerdings, dass die vorgelegten Indizien "hinreichend ernsthaft, klar und übereinstimmend" sein müssen, so dass "das Vorliegen eines Fehlers des Produkts unter Berücksichtigung auch der vom Hersteller zu seiner Verteidigung vorgebrachten Beweismittel und Argumente als die plausibelste Erklärung für den Eintritt des Schadens erscheint". Im konkreten Fall habe es keine Vorbelastung in der Familie des Geschädigten gegeben und eine "bedeutende Anzahl" vergleichbarer Erkrankungen nach der Impfung. Dies könne als Indizien-Nachweis ausreichen. Abschließend müssen darüber nun wieder die französischen Gerichte entscheiden.
In Deutschland ist das Luxemburger Urteil überwiegend für Reiseimpfungen interessant, zudem ist es nach seiner Begründung auch auf andere Arzneimittel übertragbar. Impfschäden nach einer von der STIKO empfohlenen Impfung werden dagegen aus einem Fonds entschädigt, in den auch Hersteller einzahlen. Laut Bundessozialgericht gilt für den Ursachenzusammenhang zwischen Impfung und Schaden auch hier der "Maßstab der Wahrscheinlichkeit".
Europäischer Gerichtshof Az.: C-62/15