Gesundheitskompetenz
Patienten überfordert?
Spezialisierung, Regulation, technologische Innovation – das deutsche Gesundheitssystem ist hochkomplex. Experten mahnen zu mehr Patientenorientierung.
Veröffentlicht:MÜNCHEN. Das deutsche Gesundheitssystem gilt weltweit als eines der besten. Auch Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler attestierte ihm jüngst beim Kongress der Stiftung Münch in München eine hohe Spezialisierung, gute Einrichtungsdichte sowie kostenlosen Zugang. Er ist Geschäftsführer der auf Patientenkommunikation spezialisierten Patientenprojekte GmbH. Allerdings müssten Experten mehr darauf achten, dass Patienten das hochkomplexe Angebot auch nutzen könnten. Nicht nur entwickle sich das Wissen zu Medizin und Gesundheit ständig weiter. Auch die Fülle rechtlicher und organisatorischer Anforderungen, Regeln und Möglichkeiten verlange dem Nutzer einiges ab. Patienten müssten die für sie geeigneten Angebote finden, einschätzen und nutzen können. Oft müssten sie unmittelbar mit Leistungserbringern und Kostenträgern kommunizieren. Gerade wenn es Probleme gebe, müssten sie wissen, wie sie ihre Rechte durchsetzen können. Welche Irrwege Patienten im Extremfall erleben, beschrieb Schmidt-Kaehler am Beispiel einer Frau aus Kasachstan. Innerhalb eines Jahres habe sie 35 Ärzte aufgesucht und 20 unterschiedliche Medikamente bekommen.
Mehr denn je verlange die Komplexität der Angebote eine hohe Gesundheitskompetenz (Health Literacy). Studien wiesen darauf hin, dass diese ein wichtiger Faktor für gute Behandlungsergebnisse sei, mehr als Bildung, Arbeitssituation oder Einkommen. Gesundheitskompetenz ist damit für das individuelle Wohlergehen wichtig, zugleich für Ressourcenschonung.
Deutschland im Mittelfeld
Deutschland sei einer aktuellen Studie zufolge aber gerade mal im internationalen Mittelfeld. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer hätten eine als problematisch bis inadäquat eingeschätzte Gesundheitskompetenz gezeigt. Es gebe also noch reichlich Verbesserungsbedarf, so Schmidt-Kaehler. Zugleich forderten Demokratisierung, Individualisierung und Optionsvielfalt mehr als früher den mündigen Patienten. Im Einzelfall könne das zur "Entscheidungszumutung" führen, gerade bei schweren Krankheiten und Eingriffen. "Patienten dürfen immer mehr Entscheidungen treffen", sagte Schmidt-Kaehler. "Sie müssen es aber auch." Die Verantwortung für die sinnvolle Nutzung des Gesundheitssystems ließe sich aber nicht nur beim Patienten abladen. Auch auf der Angebotsseite gebe es viel Verbesserungsbedarf. Schmidt-Kaehler rückte Zugang, Verständlichkeit und Transparenz in den Vordergrund.
Kommunikation der Ärzte im Blick
Es sei Aufgabe aller im Gesundheitswesen, sich mehr an den Patienten zu orientieren. Das gelte etwa für die Kommunikation der Ärzte. Wie sie ihre Patienten informieren und beraten, sei essenziell. Zudem ließen sich durch etwas mehr Struktur die konkreten Kontakte effizienter gestalten. Schon eine Voraberhebung mit wenigen, schlichten Fragen nach dem Gesundheitsproblem könne dabei helfen. Solche Ansätze seien beispielsweise in den USA längst verbreitet.
Gleichermaßen gebe es aber auch Forderungen an die Verwaltung. Strukturen sollten transparenter und verständlicher werden. Schmidt-Kaehler betonte den Stellenwert vernetzter Versorgungsstellen. Nur zentral gesteuert könne Health Care Usability nicht erreicht werden. Luft nach oben gebe es reichlich. "Wir bräuchten im deutschen Gesundheitswesen eine große Aufräumaktion in Sachen Verständlichkeit." Nicht zuletzt böten auch digitale Mittel weit mehr Potenzial als bisher genutzt werde. Sie könnten zu besserer Vernetzung und Versorgungsforschung beitragen und sollten integrierter Bestandteil des Gesundheitssystems werden.