Neue Analyse
Wird Telemedizin überschätzt?
Diagnose per Draht, Sensor und Telefon - die Telemedizin ist in aller Munde. Doch was taugt sie wirklich? Die Bremer Krankenkasse hkk kommt zur einem vernichtenden Fazit.
Veröffentlicht:BREMEN. Sturzsensoren, Herzfrequenz- oder Atemstillstandsmesser, Waagen mit Web-Anschluss oder Blutdruckmanschetten, die die Werte per Bluetooth ans Mobiltelefon und schließlich über das Internet dem Doktor auf den Bildschirm schicken.
Lauter Möglichkeiten der schönen neuen E-Health-Welt. Aber: "Der mittel- bis langfristige gesundheitliche und wirtschaftliche Nutzen von Telemedizin wird derzeit überschätzt", lautet jedenfalls das Resultat einer Untersuchung, die die Bremer Krankenkasse hkk Mitte November der Öffentlichkeit präsentierte.
Dr. Bernhard Braun vom Bremer Institut für Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung an der Uni Bremen (BIAG) hat 15 internationale Studien über den Nutzen von Telemedizin analysiert.
Er wertete zum einen sieben internationale Studien und Reviews zu Projekten für Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz aus und zum anderen acht Reviews zur telemedizinischen Versorgung im Allgemeinen.
Die Ergebnisse legen nahe, "dass wesentlich weniger Patienten einen Zusatznutzen aus der Telemedizin ziehen als bisher meist vermutet", heißt es. Zudem scheinen selbst diese Patienten weniger zu profitieren als erwartet.
"Dies gilt offenbar nicht nur für medizinisch messbare Ergebnisse, sondern auch für die von den Patienten wahrgenommene Lebensqualität - vor allem in der Langzeitbetrachtung." Mehr noch: "Gefahren für die Patienten können so zumindest nicht ausgeschlossen werden."
Ein Cochrane-Review, der die Wirkungen von telemedizinischen Verfahren mit persönlichen Konsultationen verglich (Cochrane 2000; 2: CD002098), fand zum Beispiel nur wenig Evidenz für einen klinischen Nutzen von Telemedizin.
hkk fordert Nutzenbewertung
Offen warnten die Verfasser: "Behörden sollten einen verstärkten Einsatz und Investitionen in nicht evaluierte Technologien nur zurückhaltend empfehlen".
Ein Jahr später bewertete eine andere Forschergruppe nach Sichtung von 1124 Studien, die bis zum Jahr 2000 vorlagen, dass eine breite Anwendung von Telemedizin nur für wenige Anwendungen empfohlen werden könne (CMAJ 2001; 165(6): 765).
Eine sechsmonatige Studie mit Versicherten der Techniker Krankenkasse (Gesundheitsökonomie Qualitätsmanagement 2005; 10: 289) ergab zwar deutlich geringere Krankenhauskosten durch weniger Wiedereinweisungen sowie kürzere Klinikaufenthalte.
Auswirkungen auf Sterberate, Krankheitsschwere und Lebensqualität wurden jedoch nicht untersucht, stellt Braun fest. "Zudem erscheinen die Ergebnisse aufgrund der Zusammensetzung der Teilnehmer nur schwer verallgemeinerbar."
Zwei Metaanalysen (JACC 2009; 54: 1683 und Cochrane 2010; 8: CD007228) mehrerer meist kleiner Studien kamen zwar im Großen und Ganzen zu positiven Ergebnissen. Jedoch bezweifeln die Autoren selbst deren Aussagekraft und weisen auf die Heterogenität der Studien hin.
Brauns Fazit lautet daher: "Telemedizinische Anwendungen flächendeckend einzusetzen, ist nicht vernünftig. Man darf positive Ergebnisse der Telemedizin nicht verallgemeinern."
Die hkk fordert nun eine "gesetzliche Nutzenbewertung für Telemedizin-Produkte und -Verfahren nach Arzneimittelstandard". Dazu seien "ausreichend große prospektive Studien über längere Zeiträume erforderlich, die einen Vergleich mit der bisherigen Versorgung in Deutschland beinhalten".