Selbstvermessung
Chancen für Ärzte und Patienten?
Immer mehr Patienten nutzen Wearables zur Selbstvermessung. Das ist solange ungefährlich, wie die daraus resultierenden Daten transparent verwertet werden, so Experten.
Veröffentlicht:MÜNCHEN. Die Selbstvermessung via Smartphone und anderen digitalen Geräten, die immer mehr Patienten für sich entdecken, ist per se kein schädlicher Trend. Darüber waren sich Experten beim Dialog Gesundheitswirtschaft in München einig. Viele Menschen wollten mittels Self-Tracking schlicht mehr über sich erfahren. Allerdings stelle sich stets die Frage, wo die erfassten Daten gespeichert und wofür sie verwendet würden. Das müsse im Sinne der Nutzer transparent sein, konstatierten die Gesundheitsexperten einhellig auf der Veranstaltung, die die Hochschule Fresenius in Kooperation mit der Stiftung Münch und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG ausgerichtet hat.
Seit einigen Jahren ginge nicht zuletzt die Sorge um, Krankenversicherungen könnten Tarife bald mit Verhaltensdaten begründen. Dies würde das Solidaritätsprinzip aufweichen. Wer beginne zu rauchen, oder Vorsorgetermine versäume, müsse auf einmal mehr bezahlen. "Es gibt keinen Tarif in der privaten Krankenversicherung in ganz Deutschland, der irgendwo vorsieht, dass man durch digitale Selbstoptimierung einen Tarif gestalten kann", betonte Daniel Bahr. Das verbiete der Gesetzgeber, so der frühere Bundesgesundheitsminister (FDP) und derzeitige Leiter des Ressorts Leistungsmanagement und Vertrieb im Vorstand der Privaten Allianz Krankenversicherung.
Vorgehen nicht rentabel
In der Krankenversicherung gebe es kein Verschuldensprinzip. Modellrechnungen hätten zudem gezeigt, dass ein solches Vorgehen gar nicht rentabel wäre, berichtete Bahr. Die Allianz nutze Tracking bei Kfz-Haftpflichtversicherungen für Junge. Wer gut fahre, spare mit BonusDrive bis zu 40 Prozent. Tatsächlich verbessere sich so das Fahrverhalten. In der deutschen Krankenversicherungslandschaft würden dagegen allenfalls über Zuschüsse zu Fitness-Trackern Anreize für gesundes Verhalten geschaffen. Patienten seien einer Umfrage nach kaum bereit, ihrer Krankenkasse per App erfasste Gesundheitsdaten zu überlassen. Ihrem Arzt würden drei von vier Patienten solche Daten geben, bei chronisch Kranken sogar 93 Prozent. Großes Potenzial bieten Apps daher insbesondere als Behandlungsbegleiter, so Bahr. "Wir könnten heute eine Menge Geld sparen, in der Gesetzlichen Krankenversicherung wie in der Privaten, wenn wir einfach nur das tun würden, was wir schon wissen." Compliance sei dabei wesentlich. Chronisch Kranke, die ihre Behandlung einhielten, verursachten nicht mehr Kosten als andere Versicherte.
Die App Tinnitracks reduziere beispielsweise durch speziell angepasste Musik Tinnitus. Novego biete Begleitung und Training für Depressive. Eine weitere Anwendung helfe Diabetikern, Blutzuckerwerte zu messen und mit dem Arzt zu besprechen. Allianz-Versicherten würde die Nutzung dieser Apps finanziert. "Es gibt verschiedene Apps, die unseren Versicherten im Versorgungsalltag einen Mehrwert bieten sollen", so Dr. Claudia Wöhler. Wie die Geschäftsführerin der Barmer Landesvertretung Bayern feststellte, werde ihr Einsatz von der Versorgung her gedacht. Bedarfe, Wirksamkeitsnachweise und Qualität seien wesentliche Kriterien.
Paternalismus als Risiko
Die Barmer mache einige Apps zugänglich, darunter die Mimi Hör-Apps, die Anwendung FIT2GO, den Teledoktor und das Arztnavi. Telemedizinische Möglichkeiten sollten gerade auch dazu beitragen, die Versorgung auf dem Land zu verbessern. Digitale Weiterentwicklungen forderten eine intensivere Kooperation von Sektoren und Disziplinen.
Mögliche Risiken von Gesundheits-Apps erörterte Soziologe Dr. Fabian Karsch von der TU München. Sie könnten je nach gesellschaftlicher Einordnung soziale Kontrolle, Diskriminierung, Überwachung und Paternalismus verursachen. Im positiven Sinne hätten sie aber das Potenzial, Gesundheitskompetenz zu stärken und Empowerment zu ermöglichen.