Mit der Gebärdenschrift und der Mundbildschrift lernen gehörlose Kinder das richtige Sprechen
Es ist laut in der vierten bis sechsten Klasse des Landesbildungszentrums für Hörgeschädigte in Osnabrück. Eine ganz normale Unterrichtsstunde. Die Kinder zwischen zehn und 16 Jahren, haben einen Text vor sich liegen: "Ich habe eine rote Zipfelmütze." Heftig gestikulieren die Schüler, sie sprechen laut, recht deutlich und beginnen dann, gemeinsam zu lesen. Für einen Außenstehenden ist nicht leicht zu erkennen, daß diese Kinder gehörlos sind.
In Deutschland leben etwa 80 000 Gehörlose. Das sind etwa 0,1 Prozent der Bevölkerung. Als gehörlos werden diejenigen Menschen bezeichnet, die ohne Gehör oder mit einem nur geringen Restgehör auf die Welt kommen. Jedes Jahr werden in Deutschland etwa 600 Kinder taub geboren.
Taubheit behindert das Sprechenlernen
Taubheit bedeutet ohne intensive Therapie die Einschränkung der lautsprachlichen Kommunikation: Gehörlose haben Probleme, richtig zu sprechen. Oft sind Gebärden die einzige Brücke zur Außenwelt. Die Gebärdensprachen der Gehörlosen sind eigenständige visuelle Sprachen. Über die Jahrhunderte hinweg wurden sie in der Kommunikation unter den Gehörlosen ausgebildet. Für Eltern von gehörlosen Kindern ist es wichtig, die Gebärdensprache zu lernen, damit dem Kind eine adäquate Kommunikationsmöglichkeit angeboten werden kann.
Ein gehörloses Kind hat es heute noch immer sehr schwer, es mit seinen gleichaltrigen hörenden Altersgenossen aufzunehmen. Hören ist die Voraussetzung für die natürliche Lautsprachentwicklung, also für das Sprechen. In dieser Klasse des Landesbildungszentrums für Hörgeschädigte in Osnabrück wird eine neue Methode versucht - mit großem Erfolg. Stefan Wöhrmann, Psychologe und Studienrat, setzt auf die "Gebärdenschrift", eine schriftliche Form der Gebärdensprache.
"Die Kinder sollen die deutsche Sprache in Wort und Schrift erlernen. Nicht nur für gehörlose Menschen ist diese Schrift wichtig, auch Hörende können mit Hilfe dieses neuen Schriftsystems die Gebärdensprache besser kennenlernen. Gehörlose selbst lernen nicht nur, die Gebärdenschrift zu lesen, sie macht es ihnen auch leichter, die deutsche Sprache zu schreiben. Diese Lernmethode ist noch sehr neu in Deutschland und eine von mehreren Methoden für Gehörlose, die nur an wenigen Schulen unterrichtet wird", erklärt Wöhrmann, der die Gebärdenschrift 2001 an der Schule in Osnabrück eingeführt hat.
Bislang galt die Gebärdensprache als eine Sprache ohne alltagstaugliche Schriftform. Die Gebärdenschrift jedoch ist eine Möglichkeit, die Gebärdensprache in einer einfach erfaßbaren Schriftform zu dokumentieren.
Erfinderin dieses Schriftsystems ist die Amerikanerin Valerie Sutton. Ihr vorrangiges Ziel war es eigentlich, eine Schrift für Tanzbewegungen zu entwickeln. Als junge Tänzerin war sie stets darum bemüht, Tanzbewegungen so zu notieren, daß die räumlich-dynamischen Aspekte der Bewegungen schnell, präzise und leicht erfaßbar abgebildet werden. Später entwickelte sie daraus eine Schrift für alle Gebärdensprachen der Welt, das "Sutton SignWriting" - auf Deutsch: "GebärdenSchrift" -, das sich in den letzten 25 Jahren zu einem Schriftsystem für Gebärdensprachen weiterentwickelt hat. Weltweit wird sie in 26 Ländern angewandt.
Mit der deutschen Gebärdenschrift ist es Gehörlosen möglich, die deutsche Lautsprache lesen und schreiben zu lernen. In Deutschland wurde die spezielle Schrift im September 1999 eingeführt und in den letzten Jahren weiterentwickelt. So gibt es inzwischen etwa ein Computerprogramm, mit dem auch Kinder im Unterricht direkt die Gebärdenschrift schreiben können.
Auch kleine Kinder ab drei Jahren sind bereits in der Lage, die bildhaften Darstellungen zu erfassen. "Das Lernen der Gebärdenschrift bietet die Chance zum systematischen Vokabeltraining, wie wir es von anderem Fremdsprachen-Unterricht gewohnt sind. Die Kinder entwickeln Selbstvertrauen und sind stolz auf ihre Leistungen, können Lautsprachkompetenz erwerben und bekommen damit eine weitere Chance der Integration in die Welt der Hörenden," erläutert Wöhrmann.
Die Mundbildschrift bildet die Laute der deutschen Sprache ab
Zur Verbesserung der Artikulation der gehörlosen Kinder hat Stefan Wöhrmann eine eigene Schrift entwickelt - die Mundbildschrift -, die den Lauten der deutschen Sprache jeweils spezifische Sprechsymbole zuordnet. Diese Mundbildschrift erweist sich auch für die Erweiterung des Wortschatzes als ausgesprochen nützlich.
Dr. Klaus-B. Günther, Professor für Gebärdensprachpädagogik an der Humboldt-Universität in Berlin, kommentiert: "Mit der Gebärdenschrift und der ergänzenden Mundbildschrift stehen für auditiv nicht erreichbare und bilingual - das heißt in Gebärden- und Verbalsprache - unterrichtete gehörlose Kinder exzeptionelle Förderinstrumente zur Verfügung, die ihnen früh das Schreiben in ihrer Basissprache, der Gebärdensprache, ermöglicht und ihnen zugleich den Zugang zur deutschen Schriftsprache erleichtert."
"Sprechen lernt man nur durch Sprechen. Also sollen die Kinder sehr viel sprechen. Es muß den Kindern Spaß machen", betont Wöhrmann. Und es macht den Kindern Spaß. Die Schüler in Osnabrück können es gar nicht abwarten, wie die Geschichte mit der Zipfelmütze weitergeht.