Hintergrund
Demenz: Auch SSRI erhöhen Sturzgefahr
Nicht nur anticholinerge Trizyklika, auch moderne SSRI erhöhen offenbar bei Demenzpatienten das Sturzrisiko.
Veröffentlicht:Trizyklische Antidepressiva sind mit ihrer oft anticholinergen Wirkung bekanntlich nicht sehr gut für gebrechliche Menschen geeignet. Das Risiko für Stürze gilt als besonders hoch.
Doch auch für SSRI - inzwischen Mittel erster Wahl bei älteren Menschen mit Depressionen - mehren sich die Hinweise, dass sie Stürze begünstigen.
Eine im vergangenen Sommer veröffentlichte Studie mit knapp 61.000 Teilnehmern im Alter von über 64 Jahren ergab für SSRI sogar ein deutlich höheres Sturzrisiko als für Trizyklika (BMJ 2011; 343: d4551).
Allerdings war dabei zu vermuten, dass gerade die gebrechlichsten Depressiven bevorzugt mit SSRI behandelt wurden, sodass die erhöhte Sturzrate nicht unbedingt auf die Medikamentenwahl, sondern eher die Auswahl der Patienten zurückzuführen war.
Dieser potenzielle Fehler kann auch in einer aktuellen retrospektiven Analyse niederländischer Forscher nicht gänzlich ausgeschlossen werden.
Da das Sturzrisiko in ihrer Untersuchung aber von der Höhe der SSRI-Dosis abzuhängen scheint, ist dies zumindest ein weiterer Hinweis für eine sturzfördernde Wirkung auch der modernen Antidepressiva bei alten Menschen (British J Clin Pharmacol 2012; online 18. Januar).
Drei Stürze pro Jahr
Dr. Carolyn Sterke aus Rotterdam und ihr Team haben Daten von 248 Demenzpatienten eines Pflegeheims ausgewertet. Für die Patienten lagen Angaben zur Medikation über einen Zeitraum von im Schnitt knapp einem Jahr vor.
Außerdem wurden die Stürze erfasst, die zu Verletzungen wie Frakturen, Schwellungen, offenen Wunden oder Blutergüssen führten.
Insgesamt dokumentierten die Forscher 683 Stürze bei 152 Patienten, im Schnitt fiel jeder Demenzkranke dreimal pro Jahr. Etwa ein Drittel der Stürze führte zu Verletzungen.
Die Geriater setzten nun die Sturzfrequenz in Beziehung zur Medikation. So bekamen die Patienten an über 16 Prozent aller Tage ein Antidepressivum, davon an 13 Prozent aller Tage einen SSRI.
In dieser Zeit war die Rate verletzungsträchtiger Stürze deutlich höher als ohne antidepressive Medikation, und zwar um den Faktor 3, wenn die Patienten die volle empfohlene Tagesdosis eines SSRI erhielten, um 73 Prozent bei der halben Tagesdosis und immer noch um über 30 Prozent bei einem Viertel der üblichen Tagesdosis.
Eine solche Dosisabhängigkeit ließ sich nur für SSRI nachweisen, nicht für Trizyklika oder andere Antidepressiva, was aber vor allem daran liegen dürfte, dass diese kaum verordnet wurden, und falls doch, dann meist nur zu einem Bruchteil der empfohlenen Tagesdosis.
Dagegen verabreichten die Ärzte bei einer SSRI-Medikation in der Regel über 80 Prozent der empfohlenen Tagesdosis.
Forscher: Sturzrisiko unter SSRI beachten
Ein fast ähnlich hohes dosisabhängiges Sturzpotenzial ergab sich auch für Hypnotika und Sedativa, und am häufigsten stürzten die Patienten, wenn sie eine Kombination solcher Medikamente mit SSRI bekamen.
Wie hoch das Sturzrisiko im Einzelnen ist, erläuterten die Studienautoren an einem Beispiel. So fällt eine 85-jährige Frau ohne SSRI, Hypnotika und Sedativa an einem bestimmten Tag mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,12 Prozent.
Unter einer Tagesdosis eines SSRI erhöht sich das Risiko auf 0,35 Prozent, kommt noch eine halbe Tagesdosis eines Hypnotikums dazu, steigt die Sturzgefahr auf 0,56 Prozent, mit einer ganzen Tagesdosis auf 0,88 Prozent und ist damit über siebenmal höher als ohne diese Medikamente.
Die Autoren ziehen daraus die Schlussfolgerung, dass man bei Demenzpatienten die Therapieschemata überdenken und das erhöhte Sturzrisiko unter SSRI berücksichtigen sollte.
Allerdings wissen sie auch nicht genau, wie das erhöhte Risiko zu erklären ist. So kommen nach wie vor auch andere Ursachen als die Medikamente infrage. Eine Depression an sich könnte das Sturzrisiko erhöhen, ebenso Verhaltensstörungen wie Aggressionen und Agitiertheit, die oftmals eine SSRI-Medikation nach sich ziehen.
Schließlich hemmen einige SSRI das Cytochrom-P450-System und führen so zu erhöhten Plasmawerten der Komedikation. Werden dadurch etwa die Spiegel bestimmter Antihypertensiva erhöht, kann auch dies die Sturzfrequenz steigern.