Interview

Vom Glück ein Typ-2-Diabetiker zu sein

Der Zweck der Blutzuckerselbstmessung ist bei Typ-2-Diabetikern ein völlig anderer, als bei insulinabhängigen Diabetes-Patienten. Warum, das erklärt Diabetologe Professor Stephan Martin im Interview.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:

Professor Stephan Martin

Vom Glück ein Typ-2-Diabetiker zu sein

© Stephan Martin

Aktuelle Position: Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums des Verbundes der Katholischen Kliniken Düsseldorf

Karriere: Ab 1998 Oberarzt und ab 2002 leitender Oberarzt an der Deutschen Diabetes-Klinik im Deutschen Diabetes Forschungsinstitut Düsseldorf (jetzt Deutsches Diabetes-Zentrum). 2007-10 Ärztlicher Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums und Chefarzt für Innere Medizin - Diabetologie an den Sana Kliniken Düsseldorf GmbH

Schwerpunkte: Martin beschäftigt sich seit der Assistenzarztzeit mit grundlagenwissenschaftlichen und klinischen Fragestellungen des Diabetes. Für seine Arbeit wurde er mit Preisen geehrt, etwa der Deutschen Diabetes-Gesellschaft und der American Academy of Continuing Medical Education.

Ärzte Zeitung: Herr Professor Martin, der berühmteste Typ-2-Diabetiker auf diesem Planeten ist im Moment der US-Schauspieler Tom Hanks. Für Aufregung sorgte sein Bekenntnis in der David-Letterman-Show, er habe keine Lust auf eine deutliche Gewichtsreduktion, da akzeptiere er lieber die Krankheit. Wie würden Sie ihn überreden, ein Gerät zur Blutzuckerselbstmessung zu kaufen?

Professor Stephan Martin: Ich würde eher versuchen ihn zu überzeugen. Die Lebensqualität, die ich ihm jetzt scheinbar wegnehme, indem ich ihn von gesunder Ernährung und Bewegung in Verbindung mit der Blutzuckerselbstmessung überzeuge, bekommt er im Alter wieder.

Der Typ-2-Diabetes hat Folgen, die die Lebensqualität im Alter extrem einschränken. Ich argumentiere weniger mit Tod und Herzinfarkt, mir geht es um die Neuropathie, um Augenveränderungen, um Mobilität. Die Look-AHEAD (Action for Health in Diabetes)-Studie hat uns gezeigt, dass Personen, die ihren Lebensstil ändern, im Alter wesentlich mobiler sind als diejenigen, die das nicht tun.

Erhaltene Mobilität ist für Senioren ein starker Motivator! Ich spreche auch vom "Glück" ein Typ-2-Diabetiker zu sein: Viele Menschen wissen nicht, wie sie ihr Leben umstellen sollen, der Typ-2-Diabetiker misst vor und nach der Mahlzeit seinen Blutzucker und weiß sofort, ob er etwas Gutes oder etwas Schlechtes gegessen hat.

Vor Jahren hatte die ROSSO-Studie ergeben, dass die Blutzuckerselbstmessung bei Typ-2-Diabetikern dazu beiträgt, Komplikationen zu vermeiden, das IQWiG kam 2009 zu dem Schluss, ein Nutzen sei nicht belegt. Wo stehen wir heute in dieser Diskussion?

Professor Martin: Wir sind keinen Meter weiter. Das IQWiG hat die Blutzuckerselbstmessung analysiert wie eine Medikation. Die Blutzuckerselbstmessung ist aber keine Intervention, sie ist etwas, das in ein Gesamtprogramm integriert werden muss.

Als Diabetologe muss ich meine Patienten überzeugen, dass es sinnvoll ist, selbst etwas gegen die Krankheit zu unternehmen. Dazu benötige ich Motivation. Insofern lässt sich der Nutzen der Blutzuckerselbstmessung per se nicht mit randomisierten kontrollierten und doppelblinden Studien nachweisen.

In jedem Diabetiker-Schulungsprogramm spielt die Blutzuckerselbstkontrolle für bestimmte Zeitabschnitte eine Rolle. Wichtig ist: Aus jeder Messung muss sich eine Konsequenz ergeben.

Kann denn der nicht insulinabhängige Typ-2-Diabetiker aufgrund der Selbstmessung seine Medikationanpassen?

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Was Sie über die Blutzuckerselbstmessung alles wissen sollten, erfahren Sie im Dossier Glukose-Selbstmessung der "Ärzte Zeitung" ...

Professor Martin: Nein, das Entscheidende ist, den Lebensstil anzupassen! Da rufe ich auch meine Kollegen auf, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, nach dem Motto: "Wozu brauche ich Lebensstilinterventionen? Wir haben doch Medikamente!"

Es ist ein Fehler, Patienten zu suggerieren, die Blutzuckerspitzen könnte man einfach wegspritzen. Das ist Unsinn! Wir verbrauchen in Deutschland pro Kopf doppelt so viel Insulin wie Österreich oder Frankreich - dazu sagt das IQWiG im Übrigen gar nichts.

Nein, wir müssen tatsächlich die Menschen dazu bringen, ihren Lebensstil zu ändern. Die vergangenen Jahre haben doch gezeigt, dass wir es eben nicht schaffen, die Diabetesepidemie mit Medikamenten allein in den Griff zu bekommen.

Sondern?

Professor Martin: Wir müssen klar machen, was Lebensstiländerungen bewirken können: Die Mobilität bessert sich, es gibt weniger Apnoe-Syndrome, weniger erektile Dysfunktion, weniger Depressionen und weniger Inkontinenz bei Frauen.

Und: Lebensstil-Intervention kostet nichts. Wenn wir es schaffen, die Menschen dazu zu motivieren, werden wir langfristige Effekte sehen. Aber Lebensstiländerungen bei Typ-2-Diabetikern ohne Blutzuckerselbstmessung bewirken zu wollen, das funktioniert nicht.

Nun setzt die Selbstmessung und die dazugehörige Dokumentation Therapietreue voraus. Um es dem Arzt recht zu machen, werden durchaus Werte frei erfunden. Was ist in solchen Fällen schiefgegangen?

Professor Martin: So etwas zeigt ein Kommunikationsproblem zwischen Arzt und Patient an. Wenn ich einem Patienten suggeriere, er müsse super Werte haben, dann wird er die mir auch liefern.

Wenn ich als Arzt den Patienten respektiere, vertrauensvoll mit ihm umgehe, sage, dass ich weiß, wie schwer es ist Lebensstiländerungen umzusetzen, und klar machen kann, dass er den Blutzucker für sich selbst misst, dann wird es keinen Grund geben, mich zu belügen.

Er will ja einen Ratschlag haben! Blutzuckerwerte können der Ausgangspunkt für ein motivierendes Gespräch sein. Hier sind wir bei einem weiteren Problem: Für das Gespräch haben wir in unserem Gesundheitssystem kaum Zeit.

Reicht es denn, sich für eine Leitlinien-gerechte Versorgung allein auf die vom Patienten gemessenen Blutzuckerwerte zu verlassen?

Professor Martin: Eigentlich schon. Ich habe ja noch den HbA1c-Wert. Wichtig ist, dass die Patienten den Zeitpunkt ihrer Messung dokumentieren. Es gibt einen Übergebrauch der Teststreifen in dem Sinne, dass manche Patienten messen, aber nicht dokumentieren.

Zu Beginn eines Typ-2-Diabetes ist der HbA1c ja oft noch gut, reicht es da nicht, den postprandialen Blutzucker einfach per Urinzuckerteststreifen zu messen?

Professor Martin: Für die Verwendung von Urinzuckerteststreifen gibt es ja ebenfalls keinerlei wissenschaftliche Grundlage. Und es gibt Blutzuckerwerte, die zu einem erhöhten Urinwert führen und dennoch keine Konsequenz haben. Wenn nach dem Frühstück mal ein bisschen Zucker im Urin ist, kann das in Ordnung sein, wenn der Mittagswert wieder stimmt.

Ein Patient in der frühen Phase des Typ-2-Diabetes mit noch gutem HbA1c braucht nicht oft den Blutzucker messen. Wichtig ist nur, dass einmal gelernt worden ist, welche Nahrungsbestandteile ungünstig sind. Wer dick ist und einen beginnenden Diabetes hat, muss zuerst Gewicht reduzieren.

Das geht am besten, indem er wenig Kohlenhydrate isst oder sie ganz weglässt. Dies kann man am Blutzucker erkennen, lange bevor nur ein Gramm Gewicht verloren worden ist. Und das motiviert.

Täuscht der gemessene Blutzuckerwert nicht scheinbare Exaktheit vor?

Professor Martin: Die Messabweichungen der guten Geräte betragen plus/minus 20 Prozent, das müssen die Patienten natürlich wissen und damit umgehen können.

Für insulinabhängige Diabetes-Patienten ist die Genauigkeit natürlich wichtiger als für den konservativ behandelten Typ-2-Diabetiker, bei dem die Messung einen ganz anderen Zweck verfolgt.

Wenn wir in der Sprechstunde Blut für die Laboruntersuchungen abnehmen, fordern wir unsere Patienten auf, ihr Gerät mitzubringen und gleichzeitig eine Bestimmung vorzunehmen, das ist eine ganz gute Orientierung.

Ich hoffe, dass wir künftig genauere Messgeräte haben werden. Wünschen würde ich mir standardisierte Testlösungen, mit denen man in verschiedenen Geräten Eichkurven erstellen und die Genauigkeiten vergleichen könnte, derzeit geht das leider nicht.

Zudem brauchen wir prinzipiell neue Regularien im Medizinproduktegesetz für die Zulassung der Geräte.

In welchen Situationen ist es bei einem Typ-2-Diabetiker sinnvoll, Blutzuckertagesprofile anzulegen?

Professor Martin: Ganz wichtig ist dies bei einer Therapieumstellung, um zu sehen, ob das Medikament etwas bringt. Es wird viel über teure Medikamente diskutiert, und ich erlebe immer wieder, dass Patienten manches monatelang einnehmen, bevor festgestellt wird: Es hat sich ja gar nichts getan.

Dabei kann man das innerhalb von Tagen und mit geringem Aufwand herausbekommen und hat gegebenenfalls eine Menge Geld gespart. Denn auch bei modernen Medikamenten gibt es Non-Responder.

 Zweitens brauchen Patienten mit potenziell Hypoglykämie-auslösenden Substanzen oder Insulin in der Titrationsphase Tagesprofile. Drittens brauchen wir Tagesprofile, wenn der Patient krank ist oder sich Lebensumstände ändern.

Unmittelbar nach der Diagnosestellung ist ein Typ-2-Diabetes subjektiv nicht spürbar. Gibt es die Chance, mit der Blutzuckerselbstmessung etwas für die Compliance zu tun?

Professor Martin: Wer sieht, dass das Antidiabetikum wirkt, wird dieses Medikament auch nutzen. Ich fordere manche Patienten auf, das Medikament einfach mal wegzulassen, zum Beispiel, wenn unter basaler Insulintherapie immer wieder erhöhte Nüchternblutzuckerwerte auftreten.

Wenn Patienten dann merken, dass die Insulintherapie oder das orale Antidiabetikum tatsächlich etwas bewirken, ist die Compliance in der Folgezeit eine ganz andere.

Im Übrigen erleben wir es immer wieder, dass Patienten es schaffen, tatsächlich den Typ-2-Diabetes zu besiegen. Das gelingt nur, wenn sie schädigende Faktoren selbst erkennen können.

Wir haben zum Beispiel kürzlich einen Patienten auf eine kohlenhydratarme Kost und auf eine Formuladiät eingestellt. Das funktionierte eine Weile, aber dann traten immer wieder unerklärliche Blutzuckerspitzen auf.

Genaues Nachfragen in Verbindung mit der Selbstmessung hat dann ergeben, dass der Mann ab und an ein alkoholfreies Radler getrunken hat. Solche Dinge sind für die Patienten mit einem großen Lerneffekt verbunden.

Motivierte Patienten sind bemüht, selbst aktiv etwas für ihren Körper zu tun. Wer nimmt schon freiwillig Medikamente, wenn dies vermeidbar ist? Jeder möchte möglichst gesund bleiben, wir müssen die Menschen nur viel stärker als bisher dazu anleiten.

Im Unterschied dazu ist es nicht Compliance-fördernd, einem übergewichtigen Typ-2-Diabetiker, bei dem ja bereits eine Hyperinsulinämie besteht, ein Langzeitinsulin zu verordnen und dann zu verlangen, er solle 20 Kilogramm abnehmen.

Welche Fehler sind die häufigsten bei der Blutzuckerselbstmessung?

Professor Martin: Der häufigste Fehler ist die Nichteinhaltung der Uhrzeit. Gemessen werden soll stets vor den Mahlzeiten und anderthalb bis zwei Stunden nach den Mahlzeiten.

Nur mit diesen Werten können wir etwas anfangen. Ein weiterer Klassiker ist, dass man unmittelbar vor der Messung etwas Süßes in der Hand hatte und sich nicht die Hände gewaschen hat.

Sie sagten vorhin, Blutzuckermessungen werden von den Patienten oft nicht dokumentiert...

Professor Martin: "Ist doch in meinem Gerät drin", ist die klassische Auskunft. Aber natürlich wissen die Patienten nicht, ob sie vor der Messung vor drei Tagen um 17.20 Uhr etwas gegessen oder getrunken hatten. Ich verlange nicht, dass monatelang alles aufgeschrieben wird.

Aber gerade ein bis zwei Wochen vor einem Arzttermin ist die Dokumentation an zwei repräsentativen Tagen hilfreich, und zwar so, dass eine Zuordnung der Messwerte zum Tagesablauf und der Nahrungsaufnahme möglich ist.

Gibt es Empfehlungen oder Patienten-Leitlinien zur Blutzuckerselbstmessung?

Professor Martin: Die Deutsche Diabetes-Stiftung hat Informationen in verschiedenen Heften zusammengestellt, die man unter www.chance-bei-diabetes.de/ihre_chance.html herunterladen kann. Im "12-Wochen-Plan für Diabetiker" finden Patienten unter anderem auch solche Hinweise.

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