Hintergrund
Anlass zu zweifeln: Wie sicher ist die derzeitige Diagnostik des Hirntodes?
Ein in Deutschland bislang noch wenig beachtetes US-amerikanisches Positionspapier könnte die Debatte um die Diagnostik des Hirntodes möglicherweise wieder aufleben lassen.
Veröffentlicht:Die moralisch-ethische Basis, auf der die postmortale Organspende auch in Deutschland ruht, ist der sicher diagnostizierte Tod des Spenders. Aber wie sicher ist feststellbar, ob bei einem künstlich beatmeten Hirntoten, wie es ein Organspender ist, der Sterbeprozess beendet und der Tod eingetreten ist - und zwar nach der "klassischen" Todesdefinition, nach der ein integriertes Funktionieren des Organismus irreversibel verloren gegangen sein sollte?
"Nicht immer eindeutig", lautet die Antwort des US-President's Council on Bioethics", einem Pendant zum Deutschen Ethikrat. Das hierzulande wenig beachtete Positionspapier von 2008 gehört zu den wesentlichen Veröffentlichungen, die nach Ansicht von Dr. Sabine Müller von der Charité Berlin die Diskussion über den Hirntod in Deutschland wieder aufleben lassen sollten (Ethik in der Medizin 2010; 22: 5).
Wochen zwischen Herztod und körperlichem Verfall
Beachtung verdienten vor allem die Studien namhafter Neurologen, nach denen die Zeit zwischen Herztod und körperlichem Verfall nach diagnostiziertem Ganzhirntod gelegentlich Wochen, in Einzelfällen auch länger dauern könne, ein Phänomen, das mit "chronischem Hirntod" beschrieben werde (175 Fälle bis 1998: Neurology 1998; 51: 1538).
Bis 2003 seien zehn erfolgreich beendete Schwangerschaften bei Hirntoten dokumentiert (Crit Care Med 2003; 31: 1241). "Die Annahme, dass nach dem Hirntod unmittelbar und notwendig Herzstillstand und körperliche Desintegration eintreten, gilt heute als widerlegt", so Müller. Ihr Fazit entspricht dem Tenor im US-Positionspapier. Der US-Ethikrat bezeichnet den "Anspruch von Medizinern und Politikern, die Trennungslinie zwischen Leben und Tod mit der Diagnose Hirntod eindeutig ziehen zu können", als "zweifelhaft" - auch dann, wenn, wie in Deutschland, der irreversible Ausfall des gesamten Gehirns (whole brain death) mit dem Hirntod gemeint sei. Gleichwohl sei dieser eine geeignete Voraussetzung für die Organentnahme.
Das US-Gremium widerspricht damit der Auffassung deutscher Neurologen wie Professor Heinz Angstwurm aus München. Angstwurm war maßgeblich an der Erstellung der Richtlinien zur Feststellung des Hirntods durch den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer beteiligt. "Die Bedeutung des Hirntodes als sicheres Todeszeichen ist naturgegeben. Keine Naturgegebenheit kann Gegenstand einer Abstimmung sein", so Angstwurm in einer Stellungnahme zur Debatte des Hirntodkonzepts im Deutschen Bundestag (Ausschussdrucksache 597/13; 1996, 6).
Im Transplantationsgesetz heißt es, vor einer Organspende post mortem müsse der "nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln festgestellt sein, die dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen" (§3, 3.2). Die Diagnostik hat die Bundesärztekammer in Richtlinien festgelegt: Im ersten Schritt wird geprüft, ob eine primäre oder sekundäre Hirnschädigung vorliegt und bestimmte Befunde wie Intoxikation, Sedierung, Hypothermie oder Hypovolämie auszuschließen sind. Im zweiten Schritt müssen Koma, fehlende Hirnstammreflexe und fehlende Spontanatmung nachgewiesen werden, im dritten die Irreversibilität der Hirnschädigung. Eine ergänzende apparative Diagnostik ist nur vorgeschrieben bei Kindern bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr, bei primärer, infratentorieller Hirnschädigung und um die Beobachtungszeit (mindestens 12 Stunden) zu verkürzen. Ohne apparative Zusatzdiagnostik würden nur Funktionen des Hirnstamms untersucht, nicht solche des Cortex oder des Kleinhirns, so Müller.
Zusätzliche Bildgebung auch in Deutschland angeregt
Parallel zur internationalen Diskussion, wie sie auch der Council on Bioethics zusammenfasst, wurde auch in Deutschland immer wieder angeregt, eine bildgebende Zusatzdiagnostik verpflichtend in die Richtlinien aufzunehmen: auf zerebralen Blutfluss (Hirn-Angiografie, transkraniale Dopplersonografie), auf elektrische Aktivität (EEG) oder neuronale metabolische Aktivität (PET, SPECT, fMRT). Es seien in der Fachliteratur etliche Fälle beschrieben, in denen Patienten aufgrund der klinischen Diagnostik als hirntot galten, bei denen es aber noch einen zerebralen Blutfluss oder elektrische Aktivität gab.
In einer 2008 veröffentlichten Untersuchung wurde bei 11 Prozent von 188 Hirntoten eine Hirndurchblutung festgestellt (Semin Nucl Med 2008; 38: 262).Nach Ansicht von Professor Günter Kirste, medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation, ist eine zerebrale Angiografie eine der zuverlässigsten Methoden für die Hirntoddiagnostik, zumal moderne Röntgenkontrastmittel - anders als frühere - Patienten nicht dem Risiko einer Verminderung der zerebralen Sauerstoffversorgung aussetzten. Kirste, erinnert sich: "Während meiner früheren Krankenhaustätigkeit habe ich einen Fall erlebt, bei dem sich mittels zerebraler Angiografie eine minimale Restdurchblutung im Circuclus arteriosus Willisi gefunden hat bei einem Patienten mit klinischem Verdacht auf Hirntod", so Kirste zur "Ärzte Zeitung".
In Zweifelsfällen, betont Sabine Müller, seien zusätzlich zur Angiografie andere Verfahren, zum Beispiel funktionelle MRT oder PET zu erwägen.
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