HINTERGRUND
Unter Prosopagnosie - der Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen - leiden mehr Menschen als angenommen
Das Gefühl, ein Gesicht zu kennen, ohne es einem bestimmten Menschen zuordnen zu können, hat wohl jeder schon einmal erlebt. Manche Menschen jedoch verlieren diese Unsicherheit ihr Leben lang nicht. Sie sind unfähig, Gesichter zu erkennen, auch die ihrer Partner, Eltern oder Kinder. Sie leiden an Prosopagnosie (Prosopon=Gesicht und Agnosis=Nichterkennen).
Bisher war das Phänomen vorwiegend als erworbene Störung bekannt, etwa als Folge einer schweren Hirnschädigung durch einen Unfall oder einen Schlaganfall. Die Ärztin Martina Grüter und der Humangenetiker Professor Ingo Kennerknecht von der Universität Münster haben jetzt jedoch nachgewiesen, daß die angeborene Prosopagnosie sehr viel verbreiteter ist als bisher angenommen, wie der Informationsdienst Wissenschaft (idw) im Internet berichtet.
Der Begriff Gesichtsblindheit führt in die falsche Richtung
Der deutsche Begriff der Gesichtsblindheit beschreibt das Leiden in unzutreffender Weise. Denn Prosopagnostiker können durchaus Gesichter als Gesichter identifizieren. Sie sind fähig, die Mimik zu deuten und die Gesichtszüge zu beschreiben, aber unfähig, sie einem bestimmten Menschen zuzuordnen.
Neuropsychologen der Universität Bochum haben unlängst bei Prosopagnostikern eine Funktionsstörung im entsprechenden Hirnareal nachgewiesen (die "Ärzte Zeitung" berichtete). Sie hatten die Hirnströme von Probanden beim Betrachten von Häusern und Gesichtern gemessen. Normalerweise ist die Hirnaktivität beim Betrachten von Gesichtern stärker - dies verhält sich bei Prosopagnostikern genau umgekehrt.
Wie viele Menschen an Prosopagnosie leiden, war bislang kaum bekannt. Für ihre Dissertation über die Erblichkeit der Prosopagnosie hat Grüter jetzt 500 Schüler aus Münster untersucht und festgestellt, daß zwei Prozent von ihnen an der Erkrankung leiden. Insgesamt hat sie in Deutschland etwa 100 Prosopagnostiker identifiziert - eine überraschend hohe Zahl an Erkrankten.
Dr. Thomas Grüter, ebenfalls Prosopagnosie-Experte, benennt im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" wichtige Kriterien bei der Diagnose :
- Betroffene Kinder erkennen Erwachsene oder Kinder aus ihrem Umfeld nicht in ungewohnten Umgebungen oder glauben im Gegenteil, in fremden Menschen Bekannte zu erkennen.
- Die Kinder scheuen sich, in Umgebungen mit vielen Menschen (etwa im Supermarkt) die unmittelbare Umgebung ihrer Mutter zu verlassen.
- An Prosopagnosie leidende Kinder suchen beim Gespräch keinen Blickkontakt. Dadurch wirken sie abwesend und zappelig. Trotzdem folgen sie einem Gespräch konzentriert.
- Weil betroffene Kinder lange brauchen, um Gesichter Personen zuzuordnen, integrieren sie sich schlecht in die Schulklasse oder Kindergartengruppe. Sie wissen oft von einem Tag auf den anderen nicht mehr, mit welchem Kind sie gespielt oder mit wem sie sich gestritten haben.
Ein weiteres Ergebnis der Forschung von Martina Grüter: Wenn eine Prosopagnosie bekannt ist, kann man davon ausgehen, daß es weitere Erkrankte in der Familie gibt. Das hat Grüters Auswertung von etwa 50 Stammbäumen ergeben.
Weil die Erkrankung so selten auftritt, ist die Diagnose schwierig. Im schlimmsten Fall, so Martina Grüter, hätten Ärzte bei Betroffenen Autismus diagnostiziert. Doch im Gegensatz zum Autismus finde sich bei der Prosopagnosie kein übermäßiges Festhalten an Gewohnheiten und keine Ablehnung von neuen Situationen oder unbekannten Menschen.
Die Ärztin selbst hat eine etwa anderthalbstündige strukturierte Anamnese entwickelt, bei der unter anderem nach Strategien gefragt wird, die Prosopagnostiker entwickeln, um sich trotz ihrer Störung an Gesichter zu erinnern. "Denn Strategien entwickelt nur, wer sie braucht und dem das Nicht-Erkennen häufiger passiert", so Martina Grüter.
Für Betroffene gibt es keine Therapie, die heilt
Da es für Prosopagnostiker bislang keine Therapien gibt, die zu einer Heilung führen, sind Betroffene auf solche Strategien angewiesen. Gemeinsam mit einer Patientin, die an erworbener Prosopagnosie leidet, hat Martina Grüter Hilfen erarbeitet, mit denen Patienten Menschen voneinander unterscheiden können.
Hierbei sei es wichtig, sich Merkmale einzuprägen, an denen das Gegenüber bei der nächsten Begegnung zu identifizieren ist. "Hilfreich dabei sind die Form des Haaransatzes, der Wimpern und Ohren, die Zahnstellung, Hände und Stimme", so Martina Grüter. "Eben all jene Kennzeichen, die unveränderlich sind."
Da es Kindern in der Regel schwerer fällt, mit ihrer Erkrankung umzugehen, haben Martina und Thomas Grüter einen Leitfaden für Eltern und Lehrer entwickelt, in dem sie nicht nur Ursachen und Formen der Prosopagnosie beschreiben, sondern auch Tips für den Schulalltag geben. Die Empfehlungen beziehen sich auf Kinder zwischen vier und acht Jahre.
Fotos helfen jungen Patienten, die Mitschüler wiederzuerkennen
Hilfreich für die Integration in der Klasse etwa sei, von allen Kindern Fotos zu machen und diese dann mit den Namen versehen im Klassenraum aufzuhängen. So können sich Betroffene immer wieder vergewissern, wer ihr Gegenüber ist. Anstecker mit Symbolen, ein Memoryspiel mit den Fotos der Schüler und Kennenlernspiele seien weitere Hilfen.
Weitere Informationen im Internet unter www.prosopagnosie.de