Gefangen in einer eigenen Welt

Das Deutsche Forschungsinstitut für Autismus setzt auf ein ganz spezielles Trainingsprogramm. Aus allen Teilen Deutschlands kommen Familien nach Bremen, die sich mit ihren autistischen Kindern nicht mehr zu helfen wissen.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Wer kann Kindern helfen, sich zu befreien?

Wer kann Kindern helfen, sich zu befreien?

© tramper / shutterstock

BREMEN. Paulo war sechs. "Paulo, geh in den Garten und hol' die Gießkanne. Geh ins Badezimmer und wasch dir die Hände.

Geh rüber zur Nachbarin." Wenn Paulo alles getan hatte, was die Bremer Professorin Nora Breeder (Name geändert) sagte, dann gingen die beiden zurück an den "Therapietisch": "Paulo, was hast du eben getan? Was ist da passiert?"

Für jede richtige Antwort bekam Paulo ein Gummibärchen, ein weißes, ein rotes ein grünes.

Was äußerlich nach kindlichtem Spiel aussah, war Training und harte Arbeit.

Hier wurde Verhalten neu einstudiert. Genau das war für die Professorin die letzte Rettung. Sie ist Paulos Mutter.

Institut setzt auf Verhaltenstherapie

In Bremen arbeitet auf dem Campus der Jacobs Universität das Deutsche Forschungsinstitut für Autismus (IFA); das IFA initiiert Forschungsprojekte, trainiert Eltern mit dem "Bremer Elterntrainingsprogramm (BET)" und bildet Autismustherapeuten aus.

Das IFA ist das einzige deutsche Forschungsinstitut seiner Art. Die Mitglieder setzen auf die Verhaltenstherapie, einen Ansatz, der besonders in den USA und in Skandinavien zur Behandlung junger autistischer Kinder eingesetzt wird.

"In Deutschland steckt dieser Ansatz leider noch in den Kinderschuhen", sagt Hermann Cordes, Vorsitzender des Institutes. Deshalb kommen aus vielen Teilen Deutschlands Familien nach Bremen, die sich mit ihren autistischen Kindern nicht mehr zu helfen wissen.

Zwei bis drei von 1000 Kindern haben eine autistische Störung, sagt Cordes. "Fünf bis zehn verschiedene Ärzte haben die Familien mit ihren Kindern besucht, bevor sie bei uns landen. Die Hälfte der Kinder kann nach der Frühförderung mit Begleitern die Normalschule besuchen.

Die andere Hälfte macht deutliche Fortschritte, auch wenn sie nicht so werden wie normale Kinder."

Ihre Welt gleicht den Teilen eines Riesenpuzzles

Autistische Kinder verirren sich zwischen Ursachen und Wirkungen ganz alltäglicher Handlungen. Ihre Welt gleicht den verwirrend vielen Teilen eines Riesenpuzzles, das zusammengesetzt ein Bild ergeben würde, eine Abfolge von Handlungen, eine Frage und eine Antwort, ein Lied.

Sie können die vielen verschiedenen Stimuli ihrer Sinne nicht ordnen, wählen stattdessen nur ein winziges Stück, ein einziges Puzzleteil heraus und legen es unter das Elektronenmikroskop ihrer Aufmerksamkeit. Cordes: "Die Kinder leben in ihrer eigenen Welt. Unser Programm holt sie in unsere Welt. Man sollte schnell handeln, damit der Entwicklungsrückstand nicht größer wird."

Paulo tobte, schlug, riss aus, schlief nicht, ging über Tisch und Bänke und war praktisch unansprechbar. "Wir standen mit dem Rücken zur Wand", erklärt Breeder die Situation vor drei Jahren.

Die Ärzte hatten eine niederdrückende Diagnose gestellt: "Multiple Entwicklungsstörung mit autistischen Zügen und ADHS". Per Internetrecherche stieß Breeder auf das IFA. Bei der Vorstellung des "Bremer Elterntrainingprogramms" musste sie schlucken: "Das war sehr konsequent und auf den ersten Blick hart."

In Grund- und Aufbaukursen erhielt das Ehepaar Breeder und vier von ihnen engagierte Co-Therapeuten das Handwerkszeug, selber mit ihrem Kind üben zu können. "Das Kind soll das gelernte autistische Verhalten abtrainieren und neues Verhalten erlernen", sagt Dr. Ragna Cordes, Tochter von Hermann Cordes.

Paulo hat nach und nach sein Leben erlernt

Autismus ist eine Folge neurobiologischer Störungen im Gehirn des Fötus, sagt Ragna Cordes. "Bestimmte Hirnareale sind dann auch beim Neugeborenen schwächer entwickelt." Aber das Gehirn kann die Vernetzung schlecht entwickelter Areale verbessern und neue Erinnerungsspeicher anlegen, wenn man es dazu anregt. Es plastiziert.

Je früher ein Kind therapiert wird umso besser, denn junge Hirne lernen leichter, meinen die Verhaltenstherapeuten. 30 Stunden in der Woche, immer zur gleichen Zeit, immer am selben Tisch: Ein ganzes halbes Jahr lang hat Paulo Stück für Stück sein Leben erlernt.

"Ein Halbtagsjob", sagt die Professorin. Anfangs ging es nur ums Imitieren. "Mach nach, Paulo!" In die Hände klatschen, ein Mal, zwei Mal - "mach mit!" Am Schluss wurde es richtig schwer. "Paulo, welches der Kinder auf dem Bild ist traurig? Welches ist lustig? Welches ist müde?" Soziale Kompetenz sei am schwersten zu erlernen, weiß Cordes.

Heute ist Paulo neun. Er lacht verschmitzt: "Mama, was habe ich im Kindergarten gemacht?" "Du bist ausgerissen." "Und wie bin ich aus dem Fenster gekommen?" "Vielleicht hochgeklettert." "Ja!?" "Weiß ich nicht mehr." "Ich auch nicht."

Ein Allerweltsdialog - eine kleine Sensation

Der Allerweltsdialog bedeutet für Paulo eine kleine Sensation. Denn er hatte anfangs nicht erlernt, was es bedeutet, wenn Mama und Papa lachen oder ärgerlich den Mund verziehen. Wie andere Betroffene hat er sich abgewandt und sich ein einen Kokon aus ganz eigenen Ritualen, Formeln und Verhaltenssequenzen versponnen. Konsequenzen waren für ihn blinde, zufällige Ereignisse.

Im Zweifel schaltete er auf stur. "Früher hat Paulo uns mit Dirigismus in Atem gehalten", sagt Breeder. Heute schließt er die Tür, wenn seine Mutter ihn darum bittet. Er empfängt Besucher, reicht ihnen die Hand, schaut sie an und sagt: "Guten Tag". Mutter und Sohn teilen eine Welt.

"Eigentlich unverständlich, dass unsere Verhaltenstherapie bei Pädiatern und Neurologen so wenig Resonanz findet", wundert sich der Potsdamer Professor Wolfgang Ott, der auch im Vorstand des IFA ist und in Potsdam selber ein Elternprogramm betreibt, "bei Gehörlosen und Blinden ist sie längst anerkannt."

Vielleicht liegt es daran, dass die Therapie anfangs als Dressur verschrien war, glaubt Ott. Dass sie Zeit, Engagement und an die 4.500 Euro kostet, dürfte ein Übriges tun. 40 Prozent der Eltern müssen das Geld selber aufbringen. Bei den anderen zahlt das Sozialamt den Betrag als Eingliederungshilfe.

Dass es hilft, ist bei Paulo unübersehbar. Belohnung und Lob brachten sein Hirn dazu, ein Lachen zu erkennen, Bleistift, Radiergummi und Papier in der richtigen Reihenfolge zu benutzen oder ein Erlebnis in zwei unterschiedlichen Fassungen zu erzählen.

Paulo ist heute in seiner Förderschul-Klasse der Beste. Herrmann Cordes meint, er könne bald auf eine Regelschule gehen.

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