Selbsttötung

Die drei wirksamsten Maßnahmen, um Suizide zu verhindern

Ein internationales Expertenteam hat Daten Tausender Studien ausgewertet. Das Ergebnis: ein Drei-Säulen-Modell, das zeigt, wie sich Selbsttötungen am wirkungsvollsten verhindern lassen.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Junge Frau in der Krise: Unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind Suizide die zweithäufigste Todesursache.

Junge Frau in der Krise: Unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind Suizide die zweithäufigste Todesursache.

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TEL AVIV. Schätzungsweise 1,4 Prozent aller Todesfälle gehen auf das Konto von Selbsttötungen. Unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind Suizide die zweithäufigste, in manchen Ländern sogar die häufigste Todesursache, berichtet ein internationales Expertenteam um Dr. Gil Zalsman vom Geha Mental Health Center in Tel Aviv (Lancet Psychiatry 2016; online 8.Juni).

Um die Suizidzahlen zu senken, wurden in vielen Ländern in den vergangenen zehn Jahren Studien- und Präventionsprogramme ins Leben gerufen. Das Team um Zalsman - bestehend aus 18 Präventionsspezialisten aus 13 Ländern - hat nun in einer Metaanalyse die Erkenntnisse aus knapp 1800 Publikationen zu dem Thema zusammengefasst.

Die Experten fanden 40 randomisierte kontrollierte Studien, 67 Kohortenstudien sowie 22 ökologische oder populationsbezogene Analysen. Daraus ergeben sich drei wirksame Ansatzpunkte zur Suizidprävention:

Säule 1: Suizidwege versperren

Wer den Impuls, sich umzubringen, nicht realisieren kann, weil ihm die Mittel dazu fehlen, überlegt es sich vielleicht noch einmal anders. Darauf deutet inzwischen eine ganze Reihe von Untersuchungen. "Es gibt eine klare Evidenz, dass ein erschwerter Zugang zu Tötungsmethoden die Suizidrate senkt und eine Substitution mit anderen Methoden nur begrenzt erfolgt", schreiben die Experten.

Sie fanden 30 Studien zu diesem Thema, die Hälfte davon beleuchtete die Folgen einer Schusswaffenrestriktion. Hier waren die Resultate jedoch sehr gemischt. So schienen schärfere Gesetze in einigen US-Staaten wenig zur Reduktion der Suizide mit Schusswaffen beizutragen - möglicherweise waren die Einschränkungen nicht ausreichend oder Schusswaffen bereits zu sehr verbreitet.

Dagegen machten die Schweiz, Norwegen und Israel mit restriktiveren Gesetzten gute Erfahrungen: Hier ging die Zahl schusswaffenbedingter Suizide zurück. Allerdings hatte dies keine großen Auswirkungen auf die Gesamtzahl der Suizide in diesen Ländern.

Ein substanzieller Einfluss ließ sich in Großbritannien hingegen mit einer Verkleinerung von Analgetikapackungen erzielen. Nachdem die Packungsgrößen so reduziert worden waren, dass die Zahl der Pillen für einen Suizid nicht mehr ausreichte, und besonders toxische Wirkstoffe verbannt worden waren, sank die Suizidrate um 43 Prozent.

Der Erfolg solcher Maßnahmen hängt stark davon ab, welche Methoden in einer Gesellschaft für den Suizid bevorzugt werden. In einigen Entwicklungsländern setzen suizidale Menschen auf leicht zugängliche Pestizide. Hier könnten eine besser gesicherte Lagerung, der Verzicht auf besonders giftige Substanzen sowie schärfere Zugangsregeln einen Effekt haben, allerdings gebe es dazu bislang kaum Daten.

Eine Reihe von Studien legt einen klaren Nutzen von Zugangsbarrieren zu Suizid-Hotspots nahe. Ein Beispiel ist etwa die Münsterplattform in der Schweizer Hauptstadt Bern: An der leicht zugänglichen, etwa 30 Meter über die Altstadt ragenden Terrasse wurden Netze angebracht, primär um die darunter lebenden Bewohner vor den Herabstürzenden zu schützen.

Diese Maßnahme verhinderte nicht nur weitere Suizide an dem Bauwerk, insgesamt sank dadurch die Suizidrate in Bern in den folgenden Jahren, bis sich die Kornhausbrücke als neuer Hotspot etablierte. Will jemand von einer bestimmten Brücke springen, und die ist gesperrt, dann geht er offenbar nicht sofort zu einer anderen Brücke. Der Impuls, sich zu töten, ist möglicherweise vorüber, bevor er sich ein anderes Ziel gesucht hat.

Ähnliche Erfahrungen machten auch die Behörden in San Francisco. Dort gelang es durch eine Reihe von Maßnahmen über 500 Menschen an der Golden Gate Bridge vom Sprung in den Pazifik abzuhalten. Von diesen haben sich später nur etwa 5 Prozent auf andere Weise das Leben genommen.

Säule 2: Psychiatrische Behandlung

Ein Großteil der Suizidwilligen leidet an psychischen Störungen wie Depressionen, bipolaren Erkrankungen oder Psychosen. Eine adäquate Behandlung kann das Risiko für einen Suizid deutlich senken. Gut dokumentiert ist das für pharmakologische Therapien, wobei Lithium bei bipolar Erkrankten noch immer die wirkungsvollste Option zu sein scheint. In Studien war die Suizidrate unter Lithium rund dreifach geringer als mit Valproinsäure-Derivaten, Suizidversuche traten nur halb so häufig auf.

Große Diskussionen gab es in der Vergangenheit zum Nutzen und Schaden von SSRI. Hier, so die Experten, gebe es nun eine gute Evidenz, dass die Medikamente langfristig die Suizidrate senken. Sie könnten zu Beginn der Behandlung zwar Selbsttötungsgedanken fördern, allerdings wurde in Studien zum Therapiebeginn keine erhöhte Suizidrate festgestellt.

Auch aus populationsbezogenen Studien gebe es keine Hinweise, wonach die Suizidrate mit der Verordnung solcher Medikamente steige, ganz im Gegenteil: Die Suizidrate ging in 29 europäischen Ländern mit einer stärkeren Verbreitung von SSRI zurück.

Reizthema: SSRI bei Minderjährigen

Ein heißes Eisen ist nach wie vor die Verordnung von SSRI bei Minderjährigen. Die Studienautoren sehen nach Auswertung der vorhandenen Daten jedoch keine Evidenz, nach der eine Antidepressivatherapie das Suizidrisiko in dieser Altersgruppe erhöht.

Solche Befürchtungen sollten nicht als Argument gegen eine medikamentöse Behandlung herangezogen werden. Depressive Minderjährige ohne jegliche Behandlung hätten ein deutlich höheres Suizidrisiko als solche mit Pharmakotherapie. Werde eine medikamentöse Behandlung erwogen, sollte bei Minderjährigen das in Leitlinien primär empfohlene Fluoxetin verwendet werden, schreiben die Ärzte um Zalsman.

Nun wird zumindest in Deutschland bei Minderjährigen mit Depressionen primär eine Psychotherapie empfohlen. Und diese scheint - auch bei Erwachsenen - ebenfalls Suizide und Suizidgedanken zu verhindern. Die beste Evidenz liegt für die kognitive sowie die dialektische Verhaltenstherapie vor.

Fallserien deuteten auch auf eine gute Wirkung der Elektrokrampftherapie (EKT) bei Suizidgedanken. Diese lassen sich offenbar rasch zurückdrängen. "Die EKT sollte daher nicht nur als Ultima Ratio dienen, sondern bei gefährdeten Patienten früher zum Einsatz kommen", heißt es in der Analyse.

Säule 3: Training, Screening, Hilfen

Eine weitere Säule der Suizidprävention zielt auf Ärzte und soziale Netzwerke. So können familienbasierte Therapien und Kriseninterventionen bei suizidgefährdeten Jugendlichen das Risiko für eine Psychiatrieeinweisung senken und Suizidgedanken zurückdrängen.

Bei speziellen Schulprogrammen sind die Effekte sehr uneinheitlich, in drei großen randomisierten Studien, in denen viel Wert auf Möglichkeiten zur Bewältigung psychischer Krisen gelegt worden ist, ließ sich die Häufigkeit von Suizidgedanken und -versuchen im Vergleich zu Kontrollgruppen um etwa die Hälfte senken. Dagegen haben allgemeine Awareness-Kampagnen kaum positive Effekte: Dabei nahmen zwar die Anrufe bei Prävention-Hotlines zu, die Suizidrate sank aber nicht.

Zu den wirksamsten Interventionen zählt offenbar die Schulung von Hausärzten. Mehrere Länder setzen auf Programme, in denen Hausärzte über Depressionssymptome und eine optimale antidepressive Therapie unterrichtet werden. Die bisherigen Resultate deuten auf eine deutlich rückgängige Suizidrate in den jeweiligen Modellregionen.

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