Kriegskinder: Eine PTSD wächst sich nicht einfach aus

Wunden einer frühen Traumatisierung heilen meist nicht von selbst, sondern wandeln und verschlimmern sich mit der Zeit. So entwickeln traumatisierte Kinder zunehmend komorbide, chronische Störungen und neigen zu Externalisierung.

Von Dr. Christine Starostzik Veröffentlicht:
Kriegskinder: Eine PTSD wächst sich nicht einfach aus

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RAMAT-GAN. Tiefe Wunden aus Kriegsereignissen, die Kinder in ihren ersten Lebensjahren wiederholt ertragen mussten, kann die Zeit nur selten heilen. Vielmehr entwickeln sich jeweils alterstypische Störungen, die sich mit der Zeit verändern. Deshalb fordern die Autoren einer israelischen Studie frühe Interventionen für Kinder aus Kriegsgebieten sowie eine individuelle Anpassung der Maßnahmen.

Immer häufiger sind unter den Patienten in Kinderarztpraxen auch Flüchtlingskinder aus Kriegsgebieten. Je nach Alter scheinen sich ihre traumatischen Erlebnisse in unterschiedlichen psychischen Störungen auszudrücken, legt eine israelische Studie nahe.

Galit Halevi und Kollegen von der Bar-Ilan-Universität in Ramat-Gan haben den Verlauf von Risiken und Resilienz von Kindern mit Kriegserlebnissen in einer prospektiven Längsschnittstudie über zehn Jahre hinweg untersucht und nach Prädiktoren für deren weitere Entwicklung gesucht (JCPP 2016; online 30. August). Dazu wurden 148 Kinder, die in Sderot, einer kleinen israelischen Stadt, 10 km von Gaza entfernt, jahrelang immer wieder Raketenangriffen ausgesetzt waren, mit 84 Kindern ohne Kriegserfahrung aus Tel Aviv zu drei Zeitpunkten verglichen: im Alter von 1,5–5 Jahren, im Alter von 5–8 Jahren sowie mit 9–11 Jahren.

Vier verschiedene Verläufe wurden dokumentiert: Kinder, die zu keiner Zeit Zeichen einer Traumatisierung erkennen ließen; Kinder, die früh pathologische Symptome zeigten, die später aber remittierten; Kinder, die zunächst Resilienz erkennen ließen, aber später pathologische Störungen entwickelten sowie Kinder, die über die ganzen zehn Jahre hinweg chronische Störungen hatten. Auch das Stresslevel der Mütter, ihr Verhalten gegenüber den Kindern sowie die Sozialkompetenz der Kinder wurden untersucht.

Störungen variieren mit dem Alter

81 Prozent der kriegsexponierten Kinder entwickelten im gesamten Studienverlauf psychische Störungen (versus 45 Prozent bei den Kontrollen). 37,8 Prozent der 1,5–5-Jährigen aus Sderot hatten eine posttraumatische Belastungsstörung (PTSD). Im Alter von fünf bis acht Jahren wurde die PTSD von den Angsterkrankungen überholt und vermehrt wurden Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) erkennbar, während bei den 9- bis 11-Jährigen Angststörungen und PTSD abnahmen und dafür die Zahlen für ADHS sowie Verhaltensauffälligkeiten und oppositionelle Störungen stiegen.

Die Autoren berechneten zwischen den 5- bis 8-Jährigen und den 9- bis 11-Jährigen signifikante Häufigkeitszuwächse bei Verhaltensauffälligkeiten und oppositionellen Störungen von 1 auf rund 11 Prozent und bei ADHS von 3 auf 29 Prozent. In der Kontrollgruppe zeigten sich keine Änderungen über diesen Zeitverlauf.

Bei etwa jedem dritten kriegsexponierten Kind nahmen die Störungen einen chronischen Verlauf (versus Kontrollen 1,3 Prozent), wobei Jungen dreimal häufiger betroffen waren als Mädchen.

Verhalten der Mutter hat Einfluss

Nicht nur die schrecklichen Erlebnisse selbst, denen die Kinder ausgesetzt waren, spielten eine Rolle für deren weitere Entwicklung. Auch das Verhalten der Mutter in lebensgefährlichen Situationen hatte Einfluss. So steigerten deren psychische Instabilität, ihr unkontrolliertes Verhalten und ihr Unvermögen, dem Kind einen gewissen Halt zu geben, die Risiken für eine frühe Manifestation und einen chronischen Verlauf weiter. Bei Kindern dagegen, die in Spielsituationen durch geringe Sozialkompetenz auffielen, manifestierten sich psychische Erkrankungen eher später.

Sind Kinder in den ersten Lebensjahren chronischen Stresssituationen ausgesetzt, heilten die daraus resultierenden seelischen Wunden in der Regel nicht von selbst, so Halevi und Kollegen. Im Gegenteil, die Auswirkungen scheinen sich mit der Zeit zu verschlimmern.

Mit zunehmendem Alter entstehen vermehrt weitere psychische Krankheiten, die Störungen chronifizieren und es bilden sich externalisierende Verhaltensauffälligkeiten aus. Die aktuellen Studienergebnisse, so die Autoren, verdeutlichten die Notwendigkeit diagnostischer Früherkennungssysteme sowie individueller Behandlungsoptionen für kriegstraumatisierte Kinder und gegebenenfalls auch deren Mütter.

81%

der kriegsexponierten Kinder entwickelten im Studienverlauf eine psychische Störung. In der Kontrollgruppe traf dies für 45 Prozent zu.

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