Psychiatrische Therapie

Wo bleibt der disruptive Wandel?

Keine neuen Medikamente, keine neuen Ideen – kaum eine andere Disziplin tritt derart auf der Stelle wie die Psychiatrie. Disruptiv sind hier allenfalls die therapeutischen Auswirkungen auf das Gehirn der Patienten. Woran liegt's?

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Wo bleibt der disruptive Wandel?

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Das Foto ist gut 100 Jahre alt: Eine psychiatrische Anstalt, Patienten liegen in großen Badewannen. Mit einer Kälteschocktherapie haben Ärzte damals versucht, Depressionen und Psychosen zu lindern. Das andere Foto ist aktuell. Ein Gerät zur Wärmebehandlung von Depressiven, benutzt in einer Studie, die im Mai 2016 in der Zeitschrift JAMA erschienen ist. Beide Fotos stellte Professor Gerhard Gründer von der Uni Aachen in einem Vortrag beim DGPPN-Kongress gegenüber. "Was tun wir hier eigentlich? Wie verzweifelt müssen wir sein?", rief der Psychiater den versammelten Experten zu.

100 Jahre psychiatrische Forschung, und noch immer wird versucht, Depressive mit Temperaturschwankungen zu behandeln? Auch an einem Revival der Halluzinogentherapie oder der Therapie mit Ketamin ließ Gründer kaum ein gutes Haar. "Ketamin liefert das beste pharmakologische Modell für eine Schizophrenie, und ausgerechnet damit hoffen wir, eine bessere antidepressive Wirkung zu erzielen?"

Er reihte solche Ansätze in eine Abfolge von Schocktherapien ein, die es in der Vergangenheit zu zweifelhaftem Ruhm gebracht haben, etwa die Insulinkomatherapie oder die Elektrokrampftherapie (EKT). Letztere ist richtig angewandt tatsächlich noch immer die wirksamste antidepressive Behandlung. Doch was sagt das über die Depressionstherapie, wenn die bislang wirksamste Behandlung darin besteht, das Bewusstsein auszuknipsen und das Gehirn wahllos mit Neurotransmittern zu fluten – vergleichbar mit dem Neustart eines hängengebliebenen Computers?

Die EKT lässt sich vielleicht am besten als Disruption pathologischer Prozesse verstehen. Besser wäre jedoch ein disruptiver Wandel in der psychiatrischen Therapie, der brachiale durch spezifische Behandlungsformen ersetzt.

Alles nur Me-too?

Ein solcher ist bislang nicht in Sicht. So hat sich in der Pharmakotherapie in den vergangenen 60 Jahren nur wenig getan, kritisierte etwa der Berliner Psychiater Professor Tom Bschor bei dem Kongress. Praktisch alle heute in der Psychiatrie verwendeten Wirkprinzipien seien im "pharmazeutischen Gründerjahrzehnt" der 1950er-Jahre aufgespürt worden: Lithium, Methylphenidat, die ersten Antipsychotika, Benzodiazepine und Antidepressiva, all das kam innerhalb eines Jahrzehnts auf den Markt. Sprunginnovationen habe es seither praktisch nicht mehr gegeben, klagt der Experte: Noch immer bilden serotonerg wirkende Mittel das Rückgrat der Depressionstherapie, noch immer stehen Dopamin-D2-Rezeptorblocker im Zentrum der antipsychotischen Behandlung.

Die Industrie, so Bschor, habe die letzten sechs Dekaden im Wesentlichen damit verbracht, Me-too-Präparate auf den Markt zu werfen. Das räche sich nun, weil das AMNOG solche Präparate nicht mehr honoriere.

Die Krise der Psychiatrie ist also bei den Patienten angekommen. Sie erhalten neue Arzneien oft nicht mehr, weil ihnen kein Zusatznutzen attestiert wird. Dabei sind Psychiater mangels aussagekräftiger Biomarker häufig auf eine Trial-and-Error-Behandlung angewiesen: Sie müssen bei Depressiven mehrere Präparate durchprobieren, bis sie ein passendes finden. Was beim einen nicht wirkt, kann dem anderen Patienten sehr wohl helfen. Eine gewisse Vielfalt ist also durchaus nötig.

Wie wirken Medikamente auf die Psyche?

Das führt zu einem anderen Problem: Wie und weshalb Medikamente auf die Psyche wirken, ist noch immer nicht richtig verstanden. Die britische Psychiaterin Dr. Joanna Moncrieff sieht selbst für Antipsychotika keine spezifische Wirksamkeit. Solche Mittel, einst eingeführt als "neurologische Inhibitoren", haben ihrer Ansicht nach eine ganze Reihe von eher globalen Effekten: Sie lähmen die körperliche Aktivität, Aufmerksamkeit, Reaktionszeit und Koordination, sedieren, führen zu emotionaler Verflachung und Gleichgültigkeit. Damit bremsen sie zwangsläufig auch eine Psychose. Vergleichen lässt sich das mit einem zu schnellen Auto: Natürlich wird es langsamer, wenn man in die Reifen schießt. Womöglich haben wir – statt nach der Bremse zu suchen – 60 Jahre lang nur effektivere Methoden entwickelt, die Luft aus den Reifen zu lassen.

Doch was, wenn es gar keine Bremse gibt? Thomas Fuchs von der Uni Heidelberg glaubt nicht an das entscheidende Stellrädchen im Gehirn, an dem ein Medikament drehen kann, damit alles wieder gut wird. Der Professor für philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie sieht bei psychischen Krankheiten nicht primär eine biochemische oder neuronale Dysbalance am Werk, die es zu korrigieren gilt, er hält diese allenfalls für ein Epiphänomen. "Die Ursache einer Trauerreaktion ist ja nicht die Aktivierung des zingulären Kortex, die sich dabei beobachten lässt, sondern wohl eher der als schmerzlich empfundene Verlust", gab Fuchs bei der Kongresseröffnung zu bedenken. Er sieht daher subjektive Erlebnisse und Empfindungen im Vordergrund, diese würden über rückgekoppelte Kreisprozesse bis auf die molekulare und neuronale Ebene hinabwirken. "Was die Hirnstrukturen dauerhaft verändert, sind Erlebnisse und Erfahrungen einer Person." Medikamente könnten in einem Bottom-up-Prozess zwar auch auf die persönliche Ebene einwirken, letztlich müssten sie aber in ein ganzheitliches Therapiekonzept eingebettet werden, das auch das Selbsterleben und die Beziehungen der Patienten berücksichtigt.

Kritiker bemängelten jedoch, dass solche psychopathologischen Betrachtungsweisen die Therapie in den vergangenen 60 Jahren auch nicht vorangebracht hätten. Wissen wir also immer noch zu wenig über die Beziehung zwischen Gehirn und Psyche? Vermutlich.

"Es ist eine wissenschaftliche Revolution nötig, ein Sprung auf eine neue Verständnisebene von psychischen Krankheiten", so Gründer vor kurzem in einem Interview mit der Zeitschrift INP. Vielleicht, so seine Hoffnung, führt uns die Krise in der Psychopharmakotherapie letztlich doch noch zum Schlüssel für ein neues Verständnis.

thomas.mueller@springer.com

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