Jeder Dritte betroffen
Hartz-IV und eine kranke Psyche
Nach einem Bericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sind bis zu 40 Prozent der Hartz-IV-Empfänger psychisch krank. Fallmanager gehen sogar von einem noch höheren Anteil aus.
Veröffentlicht:HALLE/SAALE. Erstaunlich ist es sicher nicht, dass sich unter den Hartz-IV-Empfängern viele psychisch Kranke befinden: Zum einen sind viele der Betroffenen nicht mehr in der Lage, einer regulären Arbeit nachzugehen, zum anderen mangelt es vielen Unternehmen an Geduld und Verständnis, Menschen mit psychischen Störungen zu beschäftigen, und schließlich ist Arbeitslosigkeit auch nicht gerade gut fürs Gemüt.
Dennoch überraschen die Zahlen, die jetzt Wissenschaftler um Dr. Michael Schubert von der Universität Halle-Wittenberg in einem Bericht vorgelegt haben: Danach wurde im Jahr 2011 bei vier von zehn AOK-Versicherten Hartz-IV-Empfängern eine psychische Störung festgestellt, 2007 waren es noch knapp 33 Prozent.
Für den Bericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung "Menschen mit psychischen Störungen im SGB II"* hatten die Forscher um Schubert unter anderem Daten der AOK und BKK ausgewertet. Am häufigsten wurden Depressionen registriert.
Bei den AOK-Versicherten ist der Anteil der Depressiven unter den Hartz-IV-Empfängern von 10,6 Prozent im Jahr 2007 auf 14,8 Prozent im Jahr 2011 gestiegen, die BKK meldet einen Anstieg von 9,6 Prozent im Jahr 2005 auf 13,6 Prozent im Jahr 2009 sowie auf 16,4 Prozent in 2011, zuletzt allerdings für die Gesamtzahl aller Arbeitslosen.
Am zweithäufigsten wurden somatoforme Störungen diagnostiziert, hier nennen beide Kassen einen Anstieg von etwa 9 Prozent in den Jahren 2005 und 2007 auf knapp über 11 Prozent im Jahr 2011.
Die Forscher haben auch Arbeitsvermittler in Jobcentern befragt. Diese schätzten den Anteil der psychisch kranken Hartz-IV-Betroffenen in Interviews auf 5 bis 40 Prozent. Fallmanager der Behörde gehen sogar bei der Hälfte bis zu zwei Dritteln aller Hartz-IV-Empfänger von psychischen Problemen aus.
Überforderte Jobcenter-Mitarbeiter
Die Studie ergab auch, dass sich viele Mitarbeiter in Jobcentern im Umgang mit psychisch kranken Arbeitslosen überfordert fühlen. Es fällt ihnen offenbar schwer, überhaupt zu erkennen, ob jemand eine psychische Störung hat, was zu häufigen Missverständnissen führt. Jobvermittler würden Symptome wie Antriebsmangel häufig als geringes Interesse an einem Job interpretierten.
"Spezifisches Wissen zu Auswirkungen psychischer Erkrankungen findet sich bei Vermittlungsfachkräften selten. Auch besteht bei ihnen oftmals die Erwartung, dass sich die Betroffenen aktiv und offen in die Beratungssituation einbringen. Dies kann jedoch mit den Ausprägungen psychischer Erkrankungen in Widerspruch geraten", heißt es in dem Bericht.
Jobcenter-Mitarbeiter gaben zudem an, dass sie sich aufgrund der Rahmenbedingungen und des Zeitmangels nicht angemessen um diese Gruppe kümmern könnten.
Die Forscher um Schubert fordern daher eine bessere Fortbildung von Jobvermittlern. Es müsse vermieden werden, dass in den Jobcentern bestehende psychische Probleme verschlimmert werden, etwa durch eine inadäquate Ansprache, falsche Maßnahmezuweisungen oder gar Sanktionen wegen fehlender Mitwirkung.
Sie schlagen vor, spezifische arbeitsmarktpolitische Instrumente für psychisch Kranke zu entwickeln. Zudem sollten diese Menschen bei einer Jobvermittlung noch längere Zeit nachbetreut werden.
Nach Ansicht der Bundesagentur für Arbeit (BA) müssen die neuen Erkenntnisse Ansporn für eine bessere Betreuung der Betroffenen sein. "Wir fühlen uns von dieser Studie herausgefordert, dieses Thema noch intensiver zu bearbeiten als bisher", sagte das für Hartz IV zuständige BA-Vorstandsmitglied Heinrich Alt in einem Interview der Nachrichtenagentur dpa.
Künftig müssten Mitarbeiter der Jobcenter noch besser für den Umgang mit Menschen mit psychischen Handicaps fortgebildet werden.
Doch Alt sieht auch die Unternehmen in der Pflicht: "Unternehmen sollten psychisch eingeschränkten Menschen eine Chance geben. Denn viele von ihnen sind hochproduktiv, hochintelligent. Aber sie müssen in einem Rahmen arbeiten, der nicht zusätzlich belastet, sondern eher in einem Arbeitsumfeld, das zur Genesung beiträgt."
*Schubert M et al.: IAB Forschungsbericht. Aktuelle Ergebnisse aus der Projektarbeit des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 12/2013. Menschen mit psychischen Störungen im SGB II. Publiziert im Internet unter doku.iab.de