Hintergrund

Gehirn-Stent bringt bei MS nichts

Verursacht eine venöse Störung Multiple Sklerose? Manche Patienten glauben daran - und lassen sich die hirnnahen Venen erweitern. Über ein Dutzend aktueller Studien zeigten beim MS-Kongress ECTRIMS: An der Theorie ist wohl nichts dran, die Gefäßerweiterung ist sogar gefährlich.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Magnetresonanztomografische Aufnahme des Gehirns mit Läsionen durch Multiple Sklerose.

Magnetresonanztomografische Aufnahme des Gehirns mit Läsionen durch Multiple Sklerose.

© NAS / Scott Camazine / Okapia

Für viele MS-Patienten hat die Vorstellung ihren Reiz, dass eine venöse Insuffizienz ihre MS-Erkrankung verursacht hat. Denn bislang weiß man so gut wie nichts darüber, weshalb bestimmte Menschen an einer MS erkranken, andere aber nicht.

Noch besser - nach dieser neuen Theorie gibt es eine simple Therapie: Einfach einen Stent in die verengten Venen setzen und schon fließt das Blut wieder ungehindert aus dem Gehirn und stoppt damit - hoffentlich - die Progression der MS.

Kein Wunder also, dass sich auch in Deutschland MS-Patienten für viel Geld solche Stents in die Jugularvenen implantieren lassen, seit der italienische Gefäßchirurg Dr. Paolo Zamboni vor zwei Jahren mit seiner ungewöhnlichen Theorie für Furore sorgte.

EIne CCSVI mit speziellem Ultraschall diagnostizierbar?

Der Arzt behauptet, dass er mit einer speziellen Ultraschalltechnik praktisch bei allen MS-Patienten eine "chronische zerebrospinale venöse Insuffizienz" (CCSVI) diagnostizieren kann. Darunter versteht er primär einen Reflux mit Stenosen in den Jugular- und Vertebralvenen sowie im intrakraniellen Venensystem.

Die Befürworter der CCSVI-Theorie vermuten, dass bei MS-Patienten solche Stenosen zu einer venösen Abflussstörung führen, die wiederum die Perfusion des Hirnparenchyms mindert.

Auch scheint die venöse Abflussstörung mit einem Reflux in den zerebralen Venen einherzugehen.

Eisenablagerungen im Gehirn setzt Nervenzellen zu

Dies soll wiederum erhöhte Eisenablagerungen im Gehirn zur Folge haben, was den Nervenzellen zusetzt. Unterstützung erhalten die Befürworter durch MRT-Studien, in denen bei MS-Patienten ein reduziertes Venenvolumen im Gehirn entdeckt wurde.

Auch gibt es aus solchen Studien Hinweise auf Perfusionsstörungen im Gehirn bei MS-Patienten.

Kein Zusammenhang von venösem Reflux und MS

Allerdings hat die Theorie einen Haken: Außer Zamboni konnte noch niemand einen klaren Zusammenhang zwischen einer venösen Störung und einer MS nachweisen.

Auf dem großen europäischen MS-Kongress ECTRIMS hagelte es dagegen Studien, die praktisch alle zum gleichen Schluss kommen: An einer venösen Theorie der MS ist wohl nichts dran.

Italienische Studie mit 320 Teilnehmern

So hat ein italienisches Team um Dr. Claudio Baracchini von der Universität in Padua mit transkranieller Farbdoppler-Sonografie 160 Patienten mit unterschiedlichen MS-Formen und -Stadien sowie 160 Gesunde untersucht.

Sie fanden eine venöse Insuffizienz nach den Kriterien von Zamboni jedoch nur bei 16 der MS-Patienten, von diesen ließ sich per Venografie eine Stenose nur bei zwei bestätigen.

CCSVI weder Ursache noch Folge von MS

"Eine CCSVI ist definitiv weder die Ursache einer MS noch eine Folge der Erkrankung", schreiben die Autoren in ihrem Kongressposter. Bei den untersuchten Patienten war der Ultraschallbefund auch nicht mit vermehrten Behinderungen assoziiert.

Folglich gebe es keinen Grund für einen chirurgischen Eingriff. Baracchini warnt eindringlich davor, zu viel in Ultraschalldaten zu interpretieren. Stenosen ließen sich letztlich nur angiografisch zuverlässig nachweisen.

Viele Studien finden keine signifikanten Unterschiede

Eine weitere Studie fand Zeichen einer CCSVI bei der Hälfte von 133 untersuchten MS-Patienten, aber auch bei einem Drittel von 45 gesunden Probanden. Dabei gab es ebenfalls keine Unterschiede zwischen MS-Patienten mit und ohne CCSVI, weder bei der Krankheitsdauer noch dem Grad der Behinderungen noch bei den MS-Formen.

Andere Studien fanden erst gar keine signifikanten Unterschiede zwischen MS-Kranken und Gesunden. Selbst Post-mortem-Analysen von MS-Patienten und Gesunden führten letztlich nur zu der Erkenntnis, dass das venöse System im Gehirn wohl komplizierter ist als gedacht: Es fällt den Ärzten schwer, so etwas wie ein normales Gefäßlumen und eine normale Wanddicke zu definieren.

"Die Medizin weiß einfach noch nicht, was im kranialen venösen System normal ist" sagte einer der Studienautoren, Dr. Alexander Rae-Grant aus Cleveland, USA, dem Online-Portal MedPage Today.

Zweifel bei deutschen Forschern

Auch deutsche Forscher um den Neurologen Dr. Christian Haug ziehen die Theorie in Zweifel: Mit einer speziellen Methode, der Ophthalmodynamometrie, fanden sie keine Unterschiede im intrakraniellen Venendruck bei MS-Patienten und Gesunden, und dies spricht klar gegen eine venöse Abflussstörung.

Zuvor hatten die Forscher schon normale Ferritinwerte im Liquor von MS-Patienten nachgewiesen, was wiederum gegen vermehrte Eisenablagerungen spricht, wie sie als Folge der CCSVI postuliert werden.

Kontrollierte Studie zur Venoplastie geplant

Trotz all dieser negativen Ergebnisse könnte es bald eine kontrollierte Studie zur Venoplastie bei CCSVI geben. Laut MedPage Today hat die kanadische Regierung angedeutet, sie werde eine solche Studie unterstützen.

Patientenverbände hatten in Kanada, wo die CCSVI-Theorie sehr populär geworden ist, offenbar mächtig Druck gemacht.

Deutsche Gesellschaft für Neurologie warnt vor dem Eingriff

Dagegen warnt die Deutsche Gesellschaft für Neurologie eindringlich vor einem chirurgischen Eingriff, da offenbar schon Patienten daran gestorben sind. Ein Beispiel für schwere Komplikationen durch eine venöse Gefäßerweiterung präsentieren Ärzte aus Barcelona: Nach Ballondilatation beider Jugularvenen kam es drei Tage später zu Embolien.

Der MS-Patient überlebte zwar - allerdings mit einem schweren Gehirnschaden.

Lesen Sie dazu auch: Multiple Sklerose durch venöse Störung? Daran gibt es immer mehr Zweifel Keine Evidenz für venöse "Befreiungstherapien"

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