Multiple Sklerose

Kognitive Defizite als Frühsymptome

Multiple Sklerose kündigt sich offenbar Jahre vorher schon durch Gedächtnisstörungen und Co. an. Das zumindest könnte für bestimmte Formen der MS gelten, wie eine norwegische Studie vermuten lässt.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Multiple Sklerose - Frühsymptome gibt es offenbar schon lange vor der Diagnose.

Multiple Sklerose - Frühsymptome gibt es offenbar schon lange vor der Diagnose.

© DOC RABE Media / fotolia.com

BARCELONA. Wird bei Patienten eine schubförmige Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert, dann ist nicht nur die weiße, sondern auch die graue Substanz im Gehirn in Mitleidenschaft gezogen.

So nimmt das Volumen der grauen Substanz bereits in der Frühphase einer MS schneller ab als bei gesunden Personen im gleichen Alter. Je stärker diese Atrophie ist, umso mehr Probleme haben die Patienten in der Regel auch mit ihrer kognitiven Leistung.

Bei manchen Patienten bestehen von Anfang an kognitive Probleme, etwa Schwierigkeiten beim Gedächtnis, den Exekutivfunktionen, der Aufmerksamkeit oder der Verarbeitungsgeschwindigkeit.

Viele Experten vermuten daher, dass eine MS nicht mit dem ersten klinischen Schub beginnt, sondern bereits viel früher subklinisch voranschreitet. Eine norwegische Registeranalyse, die auf dem MS-Kongress ECTRIMS vorgestellt worden ist, scheint dies zu bestätigen.

Für die Analyse hat ein Team um Dr. Marianne Cortese von der Universität in Bergen zunächst die Ergebnisse der Musterungsuntersuchung aller norwegischen Männer angeschaut, die zwischen 1950 und 1995 auf die Welt kamen.

In der Regel sind die Männer bei der Musterung in Norwegen 18 oder 19 Jahre alt. Das Besondere dabei: Seit 1950 wird bei der Untersuchung ein Kognitionstest verwendet, der knapp eine Stunde dauert und neben dem Wortschatz und den mathematischen Fähigkeiten auch die visuell-kognitive Leistung überprüft.

Das Gesamtergebnis wird auf einer Neun-Punkte-Skala abgebildet - im Mittel erreichen junge Erwachsene dabei 5,0 Punkte.

Zugleich fahndeten die Forscher um Cortese in MS-Registern nach männlichen Patienten der entsprechenden Jahrgänge. Auf diese Weise konnten sie die Musterungsergebnisse von 922 Männern ermitteln, die später an MS erkrankten. Diese verglichen sie nun mit den Resultaten von knapp 20.000 Männern ohne MS.

Sechs IQ-Punkte schlechter

Auf den ersten Blick gab es keine kognitiven Unterschiede zwischen Männern, die später an MS erkrankten, und solchen, die gesund blieben (4,9 versus 5,0 Punkte beim Gesamtscore).

Ein anderes Bild offenbarte sich den Forscher jedoch, wenn sie schauten, an welcher MS-Form die Patienten litten und wie lange die Musterung zurücklag: Bei Männern, die ein bis zwei Jahre nach dem Kognitionstest an einer schubförmigen MS erkrankten, waren die Ergebnisse in der Tat signifikant schlechter (4,2 Punkte, p = 0,001). "Der Unterschied entspricht in etwa sechs IQ-Punkten", sagte Cortese.

Deutlich werden die Differenzen auch bei einer anderen Betrachtungsweise: Im Schnitt lagen rund 20 Prozent aller Männer beim Kognitionstest eine Standardabweichung unterhalb des Durchschnittswertes von 5,0 Punkten.

Von denjenigen, die ein bis zwei Jahre nach der Musterung eine MS-Diagnose bekamen, waren es jedoch doppelt so viele (40,5 Prozent).

Kognitive Defizite scheinen nach diesen Daten bei nicht wenigen Patienten einer MS-Diagnose vorauszugehen. "Eine kognitive Beeinträchtigung könnte daher ein MS-Frühsymptom sein", so die Gesundheitsforscherin.

Schlechtere Werte auch bei der körperlichen Leistung

Noch deutlicher wird dies bei der primär-progredienten MS. Hier konnten die Wissenschaftler von 110 Patienten Daten zum Kognitionstest bei der Musterung auswerten. D

iejenigen, die in den ersten zehn Jahren nach dem Test an einer primär-progredienten Form erkrankt waren, hatten beim Test nur rund 4 Punkte erreicht, wer 10 bis 20 Jahre danach erkrankte, lag mit 4,5 Punkten ebenfalls noch signifikant schlechter als der Durchschnitt.

Nach diesen Ergebnissen müsste man also davon ausgehen, dass sich eine primär-progrediente MS bereits 10 bis 20 Jahre vor der Diagnose mit kognitiven Beeinträchtigungen bemerkbar macht.

Inzwischen glauben viele Experten, dass bei der Diagnose einer primär-progredienten MS-Form nur die Spitze des Eisbergs sichtbar wird. Wenn die Patienten klinisch auffällig werden, haben sie offenbar über Jahre hinweg massive neuronale Schäden angehäuft.

Möglicherweise beginnt also eine primär-progrediente MS im Schnitt nicht zehn Jahre später als eine schubförmige MS, sondern wird aufgrund ihres Verlaufs nur viel später erkannt. Auch hier könnten kognitive Beeinträchtigungen ein erstes Warnsignal sein.

Allerdings sollten die norwegischen Registerdaten mit Vorsicht interpretiert werden. So gab es nur 42 Männer, die in den ersten ein bis zwei Jahren nach der Musterung an einer schubförmigen MS erkrankten, und 64, bei denen in den ersten 20 Jahren eine primär-progrediente MS festgestellt wurde.

Die Annahme, dass sich eine MS schon Jahre im Voraus über kognitive Beeinträchtigungen bemerkbar macht, basiert also auf einer recht überschaubaren Zahl von Personen.

Auffällig ist, dass spätere MS-Patienten auch bei den körperlichen Musterungsuntersuchungen schlechter abschnitten als der Durchschnitt. Hier gab es jedoch keinen zeitlichen Zusammenhang mit der MS-Diagnose.

"Offenbar hat das nichts mit einer beginnenden MS zu tun, vielmehr scheinen MS-Risikofaktoren mit einer schlechteren körperlichen Fitness einherzugehen", vermutet Cortese.

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