Im Test
Neue Hypothesen zur Schmerzentstehung
FRANKFURT/MAIN. Chronische Schmerzen sind nicht nur belastend, sondern bringen auch gesundheitspolitische und -ökonomische Probleme mit sich. Die EU fördert deshalb verstärkt Gemeinschaftsprojekte zur Schmerzforschung, darunter auch das Fünf-Jahres-Projekt "GLORIA", an dem auch Klinische Pharmakologen der Goethe-Universität in Frankfurt am Main beteiligt sind.
Ein Fünftel der europäischen Bevölkerung leidet unter chronischen Schmerzen; bei den über 70-Jährigen sind es sogar bis zu einem Drittel. Die derzeit verfügbaren medikamentösen Behandlungsoptionen umfassen nur eine begrenzte Auswahl wirksamer Schmerzmittelklassen.
Bei vielen Patienten sind die verfügbaren Medikamente bisher nicht oder nur unzureichend wirksam. Darüber hinaus können sie Nebenwirkungen verursachen, die zum Abbruch der Behandlung führen.
"Neue und innovative Schmerzmedikamente werden dringend benötigt", weiß Professor Jörn Lötsch. Im Forschungsprojekt "GLORIA" arbeitet er daran zusammen mit Kollegen der Universität von Helsinki, dem Karolinska-Institut in Stockholm, dem "Centre Européen de Recherche en Biologie et Médecine" in Straßburg sowie der Firma Chemedest in Tartu, Estland.
Das Interesse der Forscher richtet sich dabei auf die Rolle der Gliazellen. Sie machen etwa die Hälfte der Zellen im Gehirn aus. Bisher hatte man ihnen vorwiegend eine stützende und versorgende Funktion zugeschrieben, aber zunehmend entdecken Forscher, dass sie auch an der Übertragung und Speicherung von Informationen beteiligt sind.
Im Fokus: genetische und epigenetische Faktoren
"Unsere Haupthypothese ist, dass Entzündungen der Nervenzellen und die damit verbundene Aktivierung der Gliazellen eine wichtige Rolle bei chronischen Schmerzzuständen spielen", wird Professor Jörn Lötsch, Institut für Klinische Pharmakologie in einer Mitteilung der Universität zitiert.
Dazu gehören sowohl neuropathische Schmerzen durch die Schädigung oder Kompression von Nervenzellen als auch Schmerzen anderer Ursache wie Arthrose oder Fibromyalgie. Die Aktivierung der Gliazellen könnte auch an Nebenwirkungen von Opioidanalgetika und der Toleranzentwicklung gegenüber dieser Medikamentengruppe beteiligt sein, vermuten die Forscher.
In dem Schmerzforschungsprojekt "GLORIA" wollen Lötsch und seine Kollegen unter anderem auch genetische und epigenetische Faktoren untersuchen, die insbesondere das Opioidsystem, ein Hauptsystem der körpereigenen Schmerzunterdrückung und Ort der Wirkung von Opioidanalgetika, an seiner Schnittstelle zu den Gliazellen betreffen.
Die Forscher wollen Patientengruppen identifizieren, denen ursächlich am Schmerzempfinden beteiligte genetische Marker gemeinsam sind. Damit wollen sie die Grundlagen zur Entwicklung innovativer klinisch-pharmakologischer Therapieansätze legen, die es künftig erlauben werden, chronischen Schmerz individuell und wirksam zu behandeln. (eb)